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Japan eine wirtschaftsmacht erfindet sich neu

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David Pilling

JAPAN - EINE WIRTSCHAFTSMACHT
ERFINDET SICH NEU
Aus dem Englischen von Ursula Held und Reinhard Tiffert


Titel der Originalausgabe:
Bending Adversity. Japan and the Art of Survival.
London, Allen Lane 2014
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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werden.
© David Pilling, 2013
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© 2013 Carl Hanser Verlag München
Internet:
Lektorat: Martin Janik
Herstellung: Andrea Stolz
Umschlaggestaltung und Motiv: David Hauptmann,
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media, Krugzell


ISBN 978-3-446-43666-4
E-Book-ISBN 978-3-446-43646-6


Für Ingrid, Dylan und Travis
und für Mama und Papa
in Liebe und Dankbarkeit

Wir sind ratlos und wissen nicht, welche Richtung wir einschlagen sollen.
Aber das ist ganz natürlich und auch sehr heilsam.
Haruki Murakami, Tokio, Januar 2003


INHALT
Vorwort
Teil I Tsunami
Tsunami
Das Schicksal meistern
Teil II Das doppelt verriegelte Land
Shimaguni
Abschied von Asien
Teil III Verlorene und wiedergewonnene Jahrzehnte
Der Zauberkessel
Nach dem Fall
Teil IV Leben jenseits von Wachstum
Japan als Nummer drei
Samurai mit Tolle
Leben jenseits von Wachstum
Der gelobte Weg
Hinter dem Schirm hervor

Teil V Quo vadis, Japan?
Asien ohne Japan
Ausnahmeland
Teil VI Nach dem Tsunami
Die Nuklearkatastrophe von Fukushima
Staatsbürger
Nach dem Tsunami
Nachwort
Danksagung
Glossar
Anmerkungen
Literatur


VORWORT
Ein jedes Buch hat seinen Ursprung. Dieses verdankt seine Existenz einer gewaltigen Welle. Das
Erdbeben und der Tsunami vom März 2011 wurden für mich zum Anlass, über Japan zu schreiben.
Ich hatte dort von 2001 bis 2008 als Auslandskorrespondent gelebt und mich seither mit dem
Gedanken getragen, ein Buch über diese Zeit zu schreiben. Doch der Druck des tagtäglichen
Berichterstattens und der fehlende konkrete Anlass waren die Gründe, weshalb das Buchprojekt nur
ein Projekt blieb. Ich verließ Japan Ende des Jahres 2008 und wendete mich anderen Dingen zu. Nach
dem Erdbeben vom 11. März 2011 kehrte ich nach Japan zurück und berichtete über die Katastrophe
im unmittelbaren Anschluss und in den folgenden Monaten. Ausmaß und Schrecken der Katastrophe
und die Art und Weise, wie die Japaner sich der Anforderung stellten, gaben mir den Impetus, die
Idee, die jahrelang in mir geschlummert hatte, jetzt in die Tat umzusetzen. Ich nahm mir vor, eine
Nation zu porträtieren, die sich von immer neuen Schicksalsschlägen, angefangen von der Gefahr der
Invasion durch die Mongolen bis zu immer wiederkehrenden Naturkatastrophen, nicht hat unterkriegen
lassen. In meinem Buch wollte ich hauptsächlich auf meinen siebenjährigen Aufenthalt im Land
zurückgreifen, also auf eine Zeit, in der Japan eine wirtschaftliche Rezession und damit einhergehend
einen Vertrauensverlust erlitt, aber so weit wie möglich die Japaner selbst zu Wort kommen lassen.

Dabei sollte weitgehend ein Bild des heutigen Japan entstehen, eines Landes, das allen offenkundigen
Schwierigkeiten zum Trotz sich wandelt und sich den neuen Bedingungen anpasst, auch wenn dies von
außen oft nicht bemerkt wird. Allerdings wurde bei dieser Beschreibung der geschichtliche
Hintergrund nicht vergessen, da Ereignisse der Gegenwart selten ohne Bezug zur Vergangenheit
wirklich verstanden werden können. Dies gilt in besonderem Maße für Japan, wo Tradition und
Geschichte sich überall bemerkbar machen, gerade auch hinter dem Beton seiner kompromisslos
modernen Stadtlandschaften.
Das vorliegende Buch handelt also nicht nur von dem verheerenden Tsunami, sondern ist viel
breiter angelegt. Die dreifache, aus Erdbeben, Tsunami und Kernkraft-GAU bestehende Katastrophe
bildet aber den Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Frage, wie japanische Behörden und mehr
noch wie die japanischen Bürger eine solche Herausforderung meistern. Die Krise brachte
Schwächen, aber auch Tugenden an den Tag, vor allem aber etwas, was wir nicht vergessen sollten:
die erstaunliche Widerstandsfähigkeit eines Volkes, das in einer der am meisten gefährdeten
Regionen der Erde lebt. In Hongkong, wo ich jetzt lebe, sahen viele die Fernsehübertragungen aus
dem Katastrophengebiet und staunten über die geordneten Warteschlangen vor Geschäften und in den
Evakuierungszentren, über die würdige Gefasstheit der Überlebenden und über das fast völlige
Fehlen von Kriminalität. Ein Land, das nach zwei Jahrzehnten der Stagnation eigentlich auf den Knien
liegen sollte, erwies sich als stärker, als viele ihm zugetraut hätten. Es warf Licht auf das, was Pico
Iyer den Japanern bescheinigt: »Selbstbeherrschung und der Gemeinsinn, der in Japan so hervorsticht.
Ein Land, das auf seiner Sonderrolle gegenüber dem Rest der Welt beharrt, zeigte seine menschliche,
mitfühlende und mutige Seite.«1
Ferner machte die Katastrophe die weiterhin bestehende Bedeutung Japans für die Weltwirtschaft


deutlich. Auch die meisten Japaner wussten nicht, dass der Nordosten des Landes, den die Flutwelle
mit Vehemenz traf, noch für etwas anderes als Reisanbau und Fischfang stand. Zwar gehört die
nordöstliche Region Tohoku nicht zum industriellen Kernland Japans, doch stellte sich nun heraus,
dass sie ein wichtiges Glied in der Zuliefererkette der globalen Wirtschaft war. Eine dort ansässige
Firma stellte allein 40 Prozent der weltweit benötigten elektronischen Bauteile her, die in
Servolenkungen von Autos und in Flachbildschirmen eine Funktion erfüllen. Nachdem die Flutwelle

das Werk, wo sie hergestellt wurden, zerstört hatte, musste in Louisiana am anderen Ende der Welt
General Motors die Autoproduktion stoppen. Wegen Stromknappheit nach der Nuklearkatastrophe in
Fukushima erhöhte Japan, das schon vorher der weltweit größte Importeur von Flüssiggas war,
drastisch seine Einkäufe von Flüssiggas, Erdöl und schließlich auch Kohle. Damit wurde es zu einem
bestimmenden Faktor in der globalen Energienachfrage.
Was die Japaner selbst als »Japan bashing« bezeichnen, hat teilweise seinen Grund in der
Tatsache, dass ihr Land eine wesentliche Rolle in der Weltwirtschaft spielt. Niemand regt sich über
die Schweiz auf, deren Wirtschaft in den 1990er-Jahren auch nur um rund ein Prozent wuchs, die also
gemessen an Japan ebenfalls ein verlorenes Jahrzehnt zu beklagen hatte. Nun ist die Schweiz zwar ein
wichtiger Finanzplatz, aber eine vergleichsweise kleine Industrienation. Japan ist ähnlich
geschrumpft, steht aber immer noch für acht Prozent der weltweiten Produktion, verglichen mit drei
bis vier Prozent für Großbritannien und 20 Prozent für die USA. Japan ist die größte Gläubigernation
und nicht etwa die größte Schuldnernation, wie es manchmal den Anschein haben mag. Es hat die
zweithöchsten Devisenreserven und konkurrierte 2012 mit China um den Rang des größten Halters
US-amerikanischer Verbindlichkeiten. Der Tsunami brachte diese verdrängten Tatsachen wieder ins
allgemeine Bewusstsein. Ironischerweise erinnerten sich viele Leute gerade zu dem Zeitpunkt, da
Japan wirklich in der Krise steckte, wie wichtig dieses Land doch immer noch war.
Mit der Krise kam selbstverständlich auch weniger Erfreuliches an den Tag. Viele waren der
Auffassung, dass der Tsunami, der Fabriken, Straßen und andere Infrastruktur zerstörte, die rund zehn
Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachten, nun den entscheidenden Schlag für den endgültigen
wirtschaftlichen Niedergang Japans getan habe. Auf jeden Fall werde er den langsamen Exodus der
industriellen Fertigung nach China und in andere billigere Produktionsländer erheblich beschleunigen.
Doch die Anfälligkeit der Wirtschaft Japans war nicht alles, auch mit seiner politischen Verfassung
stand es schlecht. Die Katastrophe in Fukushima enthüllte eine von Paternalismus, Lügen und
Schlendrian gezeichnete öffentliche Kultur. Eigentlich hätte das Risiko eines nuklearen Unfalls in der
am meisten erdbebengefährdeten Region der Erde vorhersehbar sein müssen, wie übrigens auch die
besondere Gefährdung von Atomkraftwerken, die so nah an einer von Flutwellen heimgesuchten
Küste errichtet wurden. Beamte, Politiker und Kraftwerksbetreiber hatten alle blind auf die
Zuverlässigkeit des japanischen Systems vertraut. Auch in anderer Hinsicht hatten die japanischen
Behörden geschlafen. Altenheime verfügten nicht über angemessene Evakuierungspläne. Nach Eintritt

der Katastrophe brauchte die Zentralregierung zu lange, um das Ausmaß der Not im
Katastrophengebiet festzustellen und geeignete finanzielle und technische Mittel einzusetzen. Viel zu
sehr wurde auf die sprichwörtliche Geduld der Menschen im Nordosten Japans gebaut. Gewiss,
verglichen mit der Hilfe der US-Regierung für das 2005 vom Wirbelsturm Katrina verwüstete New


Orleans mochte Japans Reaktion um einiges effizienter sein, aber dennoch ließ sie vieles zu
wünschen übrig.
Doch die japanische Geschichte hat schon früher Stunden der Krise gekannt, die zu Wendepunkten
wurden. Manche hofften, dass das Land, solchermaßen aufgeschreckt, sich auf seine alte Stärke
besinnt. John Dower, der mit seinem Buch Embracing Defeat wohl die profundeste Untersuchung
eines ausländischen Wissenschaftlers zu den Verhältnissen im Nachkriegs-Japan vorgelegt hat, sprach
von der Klarheit, die solche Krisen schaffen können. »Die Probleme liegen mit einem Mal offen und
können jetzt angegangen werden«, meinte er mir gegenüber kurz nach dem Tsunami. Die Tragödie
biete für das japanische Volk und nicht nur für die Politiker und Bürokraten die einmalige
Gelegenheit, über seine Prioritäten nachzudenken und seine Gesellschaft zu erneuern. »Die Frage, die
sich stellt, lautet: Schaffen sie es noch einmal? Werden neue Ideen in dem festgefahrenen System
abgewürgt oder hilft die Krise, eine Demokratie mit mehr Bürgerbeteiligung zu schaffen? Können die
Menschen wie in vergangenen Krisenzeiten mobilisiert werden, sich den Aufgaben zu stellen?«2
Der Originaltitel dieses Buches lautet Bending Adversity in Anlehnung an ein japanisches
Sprichwort zu dem Bemühen, ein schweres Los in ein leichtes zu verwandeln, oder knapper gesagt,
das Schicksal zu meistern. Schließlich hat Japan oft gezeigt, dass es über erstaunliche Kraftreserven
verfügt. Quasi als einziges Land in Asien hat es sich gegen die kolonialistischen Begehrlichkeiten der
westlichen Mächte erfolgreich gewehrt. Nach 1945 überwand es die eigene verheerende Niederlage
durch ein Wirtschaftswunder, das nachhaltigen Eindruck auf ganz Asien einschließlich China
ausgeübt hat. In beiden historischen Situationen hat es einen Weg aus der Not gefunden. Freilich hat
Japan nicht in jedem Fall Widrigkeiten zu seinem Vorteil genutzt, sondern ist ihnen erlegen. Die
Insellage hat ihm Sicherheit und ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl beschert. Oft ist es dadurch aber
auch Gefangener seiner geografischen Lage geblieben und hat eine Inselbewohnermentalität
entwickelt. Sein im 19. Jahrhundert geführter Kampf gegen die Gier der Kolonialstaaten endete damit,

dass Japan selbst zu einem imperialistischen Beutezug aufbrach, der Millionen Tote und dem Land
selbst beinahe die Vernichtung brachte. Wenn das Überwinden eines schweren Loses so aussah, wäre
es wohl besser gewesen, es hinzunehmen. Selbst das in vieler Hinsicht beeindruckende
Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit sehen manche nur als ein seelenloses Streben nach
Geldakkumulation, nach internationalem Ansehen durch industrielle Produktion und Handelsmacht,
nachdem Krieg und Eroberung fehlgeschlagen waren. Zwar hat Japan den Schlüssel zur
wirtschaftlichen Entwicklung gefunden, aber vielleicht hat es dabei etwas von seiner Identität
verloren.
Jetzt, da ihm seine wirtschaftliche Stärke abhandengekommen ist, hat es, wie mir Haruki Murakami
einmal sagte, eine größere Chance, sich selbst wiederzufinden. Mit dem Kater nach dem Platzen der
Spekulationsblase stellt sich existenzielle Angst ein, man sucht tastend einen Weg in die Zukunft.
»Die Leute sind ratlos. Sie haben ihre alten Muster verloren und sie wissen nicht mehr, wer sie sind«,
sagte mir eine japanische Freundin. Doch im Untergang von etwas Altem liegt immer die Möglichkeit
zu etwas Neuem, also die Chance, aus der Not eine Tugend zu machen und etwas Besseres zu
gestalten.


***
Im Winter 2001 kam ich nach Japan. Ehe ich meine Arbeit als Auslandskorrespondent in Tokio
aufnahm, verbrachte ich einen Monat mit dem Erlernen der Sprache und lebte bei einer Familie in der
Stadt Kanazawa, ein Kioto en miniature an der zerklüfteten Küste des Japanischen Meeres. Kanazawa
war eine schön gelegene Stadt, die viel von ihrem mittelalterlichen Erbe bewahrt hat. Dort gab es ein
Samurai- und ein Geishaviertel, einen berühmten Park, den Kenroku-en, und eine sehr lebendige
Künstlerszene aus Töpfern, Goldschmieden und Amateurschauspielern, die das traditionelle No-Spiel
pflegten. Gleich am ersten Tag und kaum dem Flugzeug aus London entstiegen, führte man mich zu
einer Teezeremonie in das aus dem 16. Jahrhundert stammende Schloss, ein imposanter weiß
getünchter mit Wall und Graben versehener Bau. Mehrere Dutzend Zuschauer hatten sich auf dem
Schlossgrundstück in einer pavillonartigen Anlage versammelt, wo die Zeremonie stattfinden sollte.
Meine Gastmutter, Frau Nishida, führte mich nach vorn in die erste Reihe, damit ich dem Schauspiel
aus der Nähe folgen konnte. Eine Frau im Kimono bereitete heißes Wasser auf einer tiefer gelegenen

Feuerstelle, portionierte grünes Pulver mit einem hölzernen Löffel und schäumte es mit einem langen
Teebesen auf. Jede Bewegung, von der Art und Weise, wie sie sich hinkniete, bis zum Reichen der
Teeschale, war präzise und kunstgemäß und spiegelte die jahrhundertealte Tradition der
Teezeremonie wider. Wie alle anderen kniete auch ich nach Seiza-Art, die Füße unter dem Gesäß und
mit geradem Rücken. Nach anfänglichen Schmerzen gewöhnten sich meine Beine an diese Sitzweise
und ich konnte meine Aufmerksamkeit auf das Geschehen vor mir richten. Nachdem der Tee
eingeschenkt war, aßen wir zuerst einen eigens für diesen Zweck gebackenen Kuchen, den wir mit
einem hölzernen Utensil in mundgerechte Portionen zerteilten. Dann betrachteten wir aufmerksam die
Form und Glasur der Teeschale und spürten die Wärme des Tees durch den gebrannten Ton. Wir
gaben der Schale eine und dann noch eine Vierteldrehung, bevor wir das jadegrüne, angenehm bitter
schmeckende Getränk in raschen, geräuschvollen Schlucken zu uns nahmen.
Japan ist ein Land der Riten und eingeübten Rollen. Hier waren wir alle Darsteller einer
jahrhundertealten Zeremonie, bei der jede Bewegung einem festen Brauch folgte. Nach der
Teezeremonie erhoben sich die anderen Gäste und verabschiedeten sich. Da meine unteren
Gliedmaßen fühllos geworden waren, konnte ich nicht sofort aufstehen. Ich blieb allein auf der Bühne
und wartete minutenlang, bis mit einem schmerzhaften Prickeln wieder Leben in meine Beine kam.
Noch heute halte ich dieses Erlebnis für meine Initiation in die Freuden und Leiden der japanischen
Kultur.
Bereits in den ersten Tagen in Kanazawa war ich entschlossen, mich auf die neue Kultur
einzulassen. Ich aß, was auf den Tisch kam, ob Krabbenhirn, Seeigel oder rohes Pferdefleisch. Nach
und nach entdeckte ich, dass die japanische Küche, mochte sie auch gewöhnungsbedürftig sein, stets
Frisches und Köstliches zu bieten hatte und tatsächlich besser war als alles, was ich bisher probiert
hatte. Mit 37 Jahren begann ich Japanisch zu lernen und kämpfte mich durch eine Reihe von
Prüfungen, für die ich 2000 Kanji-Schriftzeichen und ungewöhnliche grammatische Konstruktionen,
die nicht einmal vielen japanischen Oberschülern bekannt waren, lernen musste. (Ich konnte am Ende
ziemlich flüssig lesen und genau strukturierte Interviews führen, freilich konnte man von meinem


Japanisch das Gleiche sagen, was Samuel Johnson über einen auf den Hinterbeinen gehenden Hund
sagte: Es sehe nicht gut aus, aber das Erstaunliche daran sei, dass er überhaupt ging.) In Kanazawa

lernte ich das Wohnen auf Tatami-Matten schätzen. Vor dem Eintreten stellte man die Schuhe in einem
Vorraum, dem Genkan, ab, kniete sich zum Fernsehen auf die Matten und breitete zum Schlafen den
Futon aus. Die Tatami-Matten verbreiteten einen angenehmen Moschusduft. Gebadet wurde in einer
viereckigen Wanne, in die man sich erst setzte, nachdem man sich in einem separaten Duschbereich
gereinigt hatte. Manchmal gingen wir auch in eine altmodische städtische Badeanstalt. Dort befanden
sich im Außenbereich mehrere Becken mit kaltem, warmem und schwefeligem Wasser sowie
vibrierende Massagestühle im Innenbereich. Ich sah es gern, dass Japaner vor dem Essen zum Dank
immer erst die Hände falteten und dass Angestellte in Läden sich entschuldigten, ehe sie um den
Zahlungsbetrag baten, so als ob das Bezahlen dem freundlichen menschlichen Miteinander
unangemessen sei. Ich erfuhr, wo sich am Tisch der Platz für den Gast befand – immer möglichst weit
weg von der Tür, weil man in früheren Zeiten dort am sichersten vor Überraschungsangriffen war. Ich
bekam ein Verständnis für kleine, bedeutsame Gesten. Mein Japanischlehrer sagte mir zum Beispiel,
es sei unhöflich, in einem beruflichen Gespräch zu sagen, man sei beschäftigt, denn das konnte so
verstanden werden, als halte man sich für wichtiger als den anderen. Mir gefiel, dass auch in
einfachen Speiselokalen jeder Gast vor dem Essen ein warmes Handtuch erhält und dass bei
Regenwetter in Kaufhäusern eigens Apparate bereitstehen, wo Kunden ihre nassen Regenschirme in
Plastikfolien einhüllen lassen können. Ich staunte, wie gesittetes Verhalten gesetzliche Regelungen
überflüssig machte. Auf den Straßen lag nirgends Abfall. Niemand hätte auch nur im Traum daran
gedacht, im Zug oder im Fahrstuhl auf einen Handyanruf zu antworten, nicht etwa, weil das verboten
gewesen wäre, sondern weil sich das nicht gehörte. Sogar auf der Straße sprechen die Leute hinter
vorgehaltener Hand in ihr Handy, um die Lautstärke ihrer Stimme zu dämpfen.
Als ich dann zum Berufsstart nach Tokio zog, war ich erneut begeistert. Der Klang dieser
Metropole, ihre Vielfalt an Theatern und Galerien, Restaurants, Bars und Klubs, alles das macht
Tokio zum New York Asiens, nur ungleich größer mit einer Bevölkerung im städtischen Großraum
von 36 Millionen Einwohnern. Und doch war Tokio keineswegs der Siedlungsbrei, den ich mir
vorgestellt hatte. Die meisten großen Städte hat man als Ansammlung von Dörfern beschrieben, doch
für keine andere gilt dies mehr als für Tokio. Stadtviertel, darunter auch meine Wohngegend in
Higashi Kitazawa, haben noch ein dörflich geprägtes soziales Leben. An Feiertagen versammeln sich
alle, ob Banker oder Maurer, um Reis zu einem Brei zu stampfen, aus dem Mochi-Kuchen gemacht
werden. Abends ziehen sie kurze indigoblaue Happi-Kittel an und tragen barfuß in Sandalen den

heiligen Schrein wie eine Sänfte durch die schmalen, von Papierlampions erleuchteten Straßen ihrer
Wohngegend. Tokio ist ein Labyrinth von Hunderten sogenannter Shotengai, Einkaufsgassen mit
kleinen, fast budenartigen Läden, in denen handwerklich hergestellter Tofu und Süßigkeiten, Blumen
und Früchte oder auch Reis in Säcken angeboten werden. Die Gassen sind so schmal, dass sie kaum
für Autoverkehr geeignet sind. In weiten Teilen Tokios ist das Fahrrad das beliebteste
Verkehrsmittel. Zwar fehlen der Stadt große Parks in genügender Zahl, aber in den vielen
Wohnstraßen sprießt und wuchert das Grün in allen Winkeln und durch alle Ritzen. Tokio ist eine
erstaunlich naturnahe Stadt. Im Sommer übertönt das Gezirp der Zikaden sogar den Verkehrslärm. Es


gibt Heiligtümer für Füchse und Fische und sogar für Aale. Zu meinen bleibenden Erinnerungen
gehört der Anblick von drei blau uniformierten Polizisten, die zu Frühlingsbeginn im Park von
Shinjuku Gyoen standen und mit feierlichem Ernst eine Kirschblüte betrachteten. Bei einer
unglaublich niedrigen Kriminalitätsrate konnten sie es sich leisten, die zarten rosa Kirschblüten mit
einer Aufmerksamkeit zu studieren, als wären sie auf eine Leiche und ein blutbeflecktes Messer
gestoßen.
Ich machte mich daran, einen möglichst repräsentativen Durchschnitt der japanischen Gesellschaft
kennenzulernen, angefangen bei Schriftstellern wie Haruki Murakami und Kenzaburo Oe bis zum
damaligen Premierminister Junichiro Koizumi. Ich traf Industriemanager und Banker, Politiker und
Verwaltungsbeamte, Geishas, Kabuki-Schauspieler und Sumo-Ringer. Ich interviewte einfache Leute
und Paradiesvögel, Autobauer und Krankenpfleger, Aktivisten und Traditionalisten, linksliberale
Lehrer und konservative Schinto-Priester, Teenager und Greise. Vieles an der Kultur irritiert, aber
alles in allem halte ich Japan für ein Land, in dem man gern lebt, vor allem als Ausländer, der alle
Vorteile einer reibungslos funktionierenden Gesellschaft genießt, ohne deren Pflichten tragen zu
müssen. Wenn Lebensqualität unter anderem heißt, einzeln verpackte Kekse und ein tadellos
gepflegtes Aquarium in einer ganz gewöhnlichen U-Bahn-Station, dann gebührt Japan der erste Preis.
Wo sonst kann man seinen Laptop ruhig auf dem Kaffeehaustisch lassen und sicher sein, dass er bei
der Rückkehr immer noch dort steht? Welches andere Land hat Jahre schwerer wirtschaftlicher
Rezession erlebt und zeigt doch kaum Zeichen sozialen Unfriedens?
Den tiefen Pessimismus, ja die Häme in vielen Publikationen über Japan konnte ich nur schwer mit

der insgesamt doch wohlhabenden Gesellschaft, die mich umgab, in Einklang bringen. Dabei kam ich
in ein Land, das gerade ein verlorenes Jahrzehnt hinter sich hatte und sich anschickte, da es sich
neuerlich in einer tiefen Rezession befand, ein weiteres zu verlieren. Dennoch gab es kaum Zeichen
von sozialer Not, verglichen mit den Verhältnissen, die mir aus meinem Heimatland Großbritannien
bekannt waren. Japan stand vor großen Problemen: eine alternde Bevölkerung, eine beängstigend
hohe Selbstmordrate, Mobbing in der Schule, eine hohe und immer noch wachsende
Staatsverschuldung, eine stagnierende Wirtschaft und eine Schwäche der Elektronikindustrie. Aber
von einer Krise war im Bewusstsein der Japaner nichts zu spüren (worin einige Beobachter gerade
das Problem sahen). Vielmehr überwog bei mir der Eindruck, in einer wohlhabenden und in mancher
Hinsicht dynamischen Gesellschaft zu leben, einer, die sich darin gefiel, sehr japanisch und sehr
modern zu sein. Wolle ich echte Not sehen, so sagten mir viele, müsse ich den Großraum Tokio
verlassen und die armen Provinzstädte und abgelegenen ländlichen Gemeinden besuchen, in denen nur
noch die ganz Alten ausharrten. Bei meinen Reisen quer durch das Land, auf denen ich in fast alle 47
Präfekturen kam, sah ich tatsächlich hier und da Elend, Schatten einer zukünftigen Entwicklung und
auch echte Armut. Ich fuhr über Schlaglochpisten, sah daniederliegende Industriebetriebe und kam in
Dörfer, in denen Greise ohne Hilfe von außen mühsam ihr Leben fristeten. Manche Japaner, vor allem
junge, schienen orientierungslos und ohne Schwung. Aber in den meisten Gegenden traf ich auf eine
intakte Gesellschaft, auch wenn sie kämpfen musste, sich den wandelnden Bedingungen anzupassen.
Ob man beim Blick auf ein anderes Land das Urteil fällt, das Glas sei halb voll oder halb leer, mag
eine Frage des Temperaments sein. Wenn in diesem Buch gelegentlich mehr Glanz über das moderne


Japan verbreitet wird, als dies in anderen Publikationen üblich ist, dann möge das bitte nicht als
Naivität missverstanden werden. Der Leser wird auch viel Negatives finden. Doch der anhaltende
Pessimismus, der die Berichterstattung über Japan prägt, ist genauso irreführend wie die
Lobhudeleien der 1980er-Jahre. Damals behaupteten viele Experten, Japan werde mit seiner
Wirtschaftsmacht die Weltherrschaft erringen. Heute besteht die gängige Einschätzung darin, nicht nur
ein halb leeres Glas zu sehen, sondern eines, das einen Sprung im Boden hat, aus dem der
verbliebene Inhalt rasch entweicht. Japan, so heißt es, sei nicht fähig, sich zu verjüngen, und befinde
sich auf dem absteigenden Ast. Japans Industrie sterbe ab, die Frauen würden dort unterdrückt, viele

Menschen seien selbstmordgefährdet, die ganze Gesellschaft schotte sich ab und der staatliche
Schuldenberg sei nicht mehr abzutragen. Darin steckt zweifellos ein Körnchen Wahrheit, aber ein
realistisches Bild ergibt sich daraus nicht. Manche Beobachter haben das Bild eines seelisch kranken
Japan gezeichnet. Grundlage hierfür sind Berichte über eine neurotische Gesellschaft mit Scharen von
jugendlichen Stubenhockern, die nie ihr Haus verlassen. Mit ähnlichem Recht könnte man aber auch
die USA als das Land bezeichnen, in dem Massenmord, Drogenabhängigkeit und Gettobildung zu
Hause sind, oder Großbritannien als eine Klassengesellschaft darstellen, die in ihrer Unterschicht
jugendliche Hooligans heranzüchte und in der nächtliche Messerstechereien zum Alltag gehören. Das
wären zweifellos groteske Verzerrungen der Wirklichkeit. Jedes Land, auch Japan, verdient eine
ausgewogene Beurteilung. Denn allen Problemen zum Trotz bleibt Japan eine widerstands- und
anpassungsfähige Gesellschaft. Aus seiner Geschichte geht hervor, dass es die Fähigkeit besitzt,
Schwierigkeiten ins Gesicht zu sehen und viele davon auch zu bewältigen – wobei sich übrigens
zeigt, dass einige Schwierigkeiten nicht, wie oft behauptet, typisch japanisch sind.
Japans Wandel ist mit dem Wiederaufbau des Schreins in Ise verglichen worden, dem wohl
bedeutendsten Schinto-Heiligtum, das auf das dritte Jahrhundert zurückgeht. Der Schrein ist ganz
anders, als man erwarten könnte. Das Heiligtum besteht aus 125 einzelnen Schreinen, von denen ein
jeder einer bestimmten Gottheit geweiht ist. Auch der Wald, in dem die Schreine stehen, ist heilig,
insofern ist Ise weniger die St.-Paul’s-Kathedrale als vielmehr ein Hyde Park mit Gottheiten. Alle 20
Jahre werden die aus Holz gefertigten Schreine bis auf das Fundament abgerissen und in genau
denselben Maßen wieder neu errichtet. Man kann sich daher streiten, ob das Heiligtum zwei
Jahrtausende oder zwei Jahrzehnte alt ist. Ebenso hat Japan die Fähigkeit zu grundlegendem Wandel
bewiesen, ohne seine Vergangenheit und seinen Glauben zu verleugnen. Der ehemalige amerikanische
Außenminister Henry Kissinger äußerte einmal gegenüber Zhou Enlai, Mao Zedongs rechter Hand, er
mache Japans »Stammeswesen« für diese Fähigkeit zum rasanten Wandel verantwortlich. »Die
Japaner halten ihre Gesellschaft für so einzigartig, dass sie sich an alles anpassen können und doch
ihr nationales Wesen bewahren. Daher sind sie zu plötzlichen Kehrtwendungen fähig. Sie haben den
Schritt vom Feudalismus zum Kaiserkult in zwei, drei Jahren vollzogen. Vom Kaiserkult zur
Demokratie brauchten sie nur drei Monate.«3
***
Der japanische Soziologe Yoshio Sugimoto behauptet von Kritikern, dass sie versucht seien, »sich



entweder dem Lager der ›Japan-Bewunderer‹ oder dem Lager der ›Japan-Schmäher‹ anzuschließen
und entsprechend die japanische Gesellschaft in Schwarz-Weiß-Manier zu beschreiben«.4 Manche
ausländische Japan-Kenner, auch solche, die sich jahrelang nicht von diesem Land trennen konnten,
halten Japan für hoffnungslos fremden- und frauenfeindlich, hierarchisch strukturiert, allem Neuen
verschlossen und unfähig, sich der eigenen Geschichte zu stellen. Andere wiederum bewundern
Dinge, die mir schon in Kanazawa aufgefallen waren, nämlich soziale Kohärenz, Respekt vor der
Tradition, Höflichkeit, Sinn für Qualität und relative Gleichheit. Beide Sichtweisen sind durchaus
miteinander vereinbar. Sugimoto empfiehlt, einen Abgleich zu machen, bei dem »die
wünschenswerten und die abstoßenden Seiten in ihrer Verbundenheit gesehen werden«.
Nehmen wir ein kleines Beispiel. Man kann bewundern, dass ein Lehrling des BunrakuMarionettenspiels – bei dem eine Marionette von drei Personen geführt wird – 30 Jahre zum Erlernen
seiner Kunst braucht. Die ersten zehn Jahre darf er nur die Beine der Marionette bewegen, dann ist er
berechtigt, den linken Arm zu führen. Nach einem weiteren Jahrzehnt sind ihm dann auch der rechte
Arm und der Kopf erlaubt. Aber es braucht noch weitere zehn Jahre, ehe er als ein echter Meister
angesehen wird. Bei manchen Marionettenaufführungen sieht das Publikum nur den Kopf des
Hauptspielers, während seine beiden Lehrlinge eine schwarze Kapuze tragen. Solche Pedanterie ist in
Japan in allen Lebensbereichen anzutreffen. Manche Sushi-Meister erlauben ihren Lehrlingen
jahrelang nicht, Fisch auch nur zu berühren. Ein Bonsai-Meister erzählte mir, er sei drei Jahre ohne
Entgelt in die Lehre gegangen, ehe sein Meister ihm gestattete, einen Baum zu beschneiden. Diese
übertriebene Sorgfalt im Detail und die Achtung vor überlieferten Regeln sind Gründe für die hohe
Qualität, die man überall in Japan, ob in einer Restaurantküche oder in einer Werkhalle, antrifft. Und
doch sei angemerkt, wie erdrückend und innovationshemmend eine Disziplin wirken muss, die auf der
antiquierten Anschauung beruht, dass ein Lehrling das tradierte Wissen von einem unfehlbaren
Meister aufnehmen müsse. Die Malerin Yayoi Kusama, die in unkontrollierbaren kreativen
Ausbrüchen ihre Leinwände mit Tupfern bedeckt, gestand mir einmal, dass ihr beim Gedanken an das
traditionelle Meister-Schüler-Verhältnis speiübel werde. Unsere Bewunderung für Produkte der
japanischen Gesellschaft und unsere Vorbehalte gegenüber der Art und Weise, wie sie
hervorgebracht werden, sind nur schwer unter einen Hut zu bringen.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel aus dem Alltag. Wir können die Morgengymnastik in

japanischen Firmen lächerlich und konformistisch finden. In Tokio habe ich oft schmunzelnd
beobachtet, wie sich Bauarbeiter in ihrer Einheitskluft vor der Baustelle versammelten und
gemeinsam Gymnastik machten. Gleichzeitig beschlich mich eine heimliche Bewunderung für ein
Ritual, das zweifellos zur Gesundheit und Fitness der Japaner beitrug – von denen viele bis ins hohe
Alter beneidenswert schlank und gelenkig bleiben – und das Körperertüchtigung »demokratisierte«,
sodass sie nicht mehr nur in privaten Fitnessklubs praktiziert wird.
Vor- und Nachteile findet man in jeder Gesellschaft. Mit Blick auf Japan kann eine solche
Betrachtungsweise sehr hilfreich sein. Im Wirtschaftsleben werden japanische Unternehmen oft
kritisiert, weil sie sich zu sehr gegen Stellenabbau und Rationalisierung stemmen. Das schadet den
Aktionären, deren Dividende geschmälert wird, weil das oberste Ziel des Unternehmens nicht in der
Profitmaximierung liegt. Solche Praktiken dämpfen auch die Kräfte der schöpferischen Zerstörung,


durch die dynamische Volkswirtschaften wie die US-amerikanische ständig Arbeitskräfte und
Ressourcen in produktivere Wirtschaftsregionen verschieben. So werden alte Industriestandorte
aufgegeben und neue aufgebaut. Dafür hat Japan aber eine deutlich niedrigere Erwerbslosenquote –
um die vier Prozent – als andere Länder. Der Staat muss weniger ausgeben für
Arbeitslosenunterstützung, und die Gesellschaft insgesamt zahlt weniger für die Begleiterscheinungen
der Langzeitarbeitslosigkeit wie zum Beispiel höhere Kriminalität oder Krankheit. Gewiss, für die
Produktivität der Unternehmen mag das Einbußen bringen. Volkswirtschaften, die eine härtere
Gangart bevorzugen, sind wahrscheinlich langfristig leistungsfähiger. Doch muss es in jeder
demokratischen Gesellschaft eine legitime Debatte darüber geben, wie das richtige Verhältnis
zwischen Anteilseignern und Aktionären aussehen soll.
Dass Nachteile auch ihr Gutes haben, trifft womöglich sogar für das zu, was viele als Japans
größtes Übel ansehen, nämlich seine nach innen gekehrte »Galapagos«-Mentalität.
Begreiflicherweise wird diese Mentalität gewöhnlich als rein negativ dargestellt. Sie war und ist
immer noch schuld daran, dass Japan nicht, wie es Yukichi Fukuzawa, ein liberaler Denker des
19. Jahrhunderts, einmal formuliert hat, »ins Geben und Nehmen mit der übrigen Welt« eingebunden
ist. Japan verschließt sich zu sehr sowohl dem ausländischen Kapital wie auch der Einwanderung.
Auf der anderen Seite hat gerade Japans Bewusstsein, ein besonderes Volk zu sein, wesentlich dazu

beigetragen, alles das zu bewahren, was viele am meisten an diesem Land bewundern. Pico Iyer, ein
britischer Essayist, der seit 25 Jahren in Kioto lebt, sagte mir, alles, was er als das Eigenwillige und
Bezaubernde an der japanischen Kultur so schätze, würde schon lange nicht mehr existieren, wäre
diese Nation offener. »Das sichere Gefühl, wer dazugehört und wer nicht, befähigt Japan, so
reibungslos und harmonisch zu funktionieren«, sagt er und er fährt fort: »Die japanische Gesellschaft
erinnert mich an ein Orchester, in dem jeder nach derselben Partitur spielt, jeder kennt genau seinen
Part und alles läuft wie am Schnürchen, solange jeder seinen Teil beiträgt.« Nicht alle ausländischen
Besucher sind so nachsichtig. David Mitchell, der Autor von Cloud Atlas, erzählte mir einmal von
der Zeit, als er mit seiner japanischen Ehefrau und ihren zwei kleinen Kindern in der bedrückenden
Atmosphäre der alten Samurai-Stadt Hagi in Westjapan lebte. Die Mütter in der Schule bezeichneten
seine Kinder stets als die »Halben« – der übliche und für japanische Ohren nicht abschätzige
Ausdruck für jemanden, der halb japanisch ist. Der Ausdruck brachte Mitchell auf die Palme. Er
verwendete viel Zeit darauf zu erklären, dass seine Kinder nicht »halb«, sondern »beides« seien, also
ein Ganzes. Japaner, so sein Urteil, kämen mit dem Leben auf »kulturellen Grenzen oder Schwellen«
nicht zurecht. Nach einem Jahr zog Mitchell mit seiner Familie wieder zurück nach Irland.
Sugimotos Erklärungsmodell hat auch seine Schwächen. Es kann zu falschen Dichotomien führen.
Japan könnte sehr wohl offener und internationaler sein und dabei doch zivilisiert und harmonisch
bleiben. Starke, selbstbewusste Gesellschaften können Einflüsse und Menschen von außen in sich
aufnehmen, ohne ihr inneres Gleichgewicht zu verlieren. Japan würde es guttun, seine Universitäten
ausländischen Studenten zu öffnen und seine eigenen Söhne und Töchter zu ermuntern, auf der Suche
nach neuen Ideen in die Welt zu gehen, wie es einst seine Meiji-Pioniere taten. Vielleicht könnte
Japan einen Weg finden, wie man höhere wirtschaftliche Effizienz mit niedrigen Erwerbslosenzahlen
verbindet oder wie man eine Generation selbstbewusster Individualisten heranzieht, die sich dennoch


nicht der kollektiven Morgengymnastik verweigern. Gesellschaftssysteme sind freilich nicht so leicht
zu entwirren. Ihre Stärken sind oft zugleich ihre Schwächen und umgekehrt. Kulturen sind keine
Speisekarten, aus denen man nach Belieben bestellen kann.
Das ist einer der Gründe, weshalb dieses Buch kaum Rezepte bietet. Wer eine Antwort darauf
sucht, wie die Japaner ihre Wirtschaft beleben oder ihre Denkhaltung ändern können, wende sich an

eine andere Adresse. Nur der Ordnung halber: Ich pflichte einigen gängigen Rezepten bei. Auch ich
bin der Ansicht, dass Japan lebenswerter wäre, wenn das Land nicht so abgeschottet, wenn es nicht
so konservativ wäre, wenn es offener mit seiner imperialistischen jüngeren Geschichte umginge und
wenn es den Begabungen der Frauen Raum gäbe. Es würde dem Land guttun, wenn es mehr Teilhabe
am politischen Entscheidungsprozess zuließe und das marode politische System erneuerte. Ohne
Zweifel sollte es Anstrengungen für mehr Wirtschaftswachstum machen – vielleicht durch eine
Mischung aus wirtschaftlicher Liberalisierung, Freihandel und aggressiver Geldpolitik. Die
japanische Gesellschaft würde insgesamt dynamischer, wenn es mehr Unternehmer gäbe, die Risiken
eingehen, und wenn das Bildungssystem kreativeres Denken fördern würde. Mittelfristig wären wohl
Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen oder beides nötig, um die Finanzen zu ordnen. Doch solche
Ratschläge bringen uns nicht viel weiter. Schließlich sagen viele Wissenschaftler und
Entscheidungsträger in Japan ungefähr das Gleiche. Die Liste der Hausaufgaben, die Japan zu
erledigen hat, scheint evident, aber das ist leichter gesagt als getan.
In meinem Buch konzentriere ich mich auf Japan, wie ich es vorgefunden habe, und nicht auf ein
Japan, wie ich es mir wünsche. Ich habe den Eindruck, dass sich seine Gesellschaft wandelt und
anpasst, wenngleich auf manchmal frustrierende Weise. Wir sollten nicht meinen, Japan sei starr und
unwandelbar, genauso wenig wie wir es für homogen halten sollten. Mögen die Japaner auch von sich
selbst die Vorstellung einzigartiger Harmonie hegen, leben sie doch in einem Land, das wie jedes
andere auch nach Klassen, Regionen, Alter und Geschlecht getrennt ist, das sich der Herausforderung
durch Subkulturen stellen und den Strukturwandel bewältigen muss. Jede Aussage, die mit den
Worten »Die Japaner denken …« beginnt, sollte mit größtem Misstrauen aufgenommen werden.
Angesichts dieser Wirklichkeit sollen auf diesen Seiten die Japaner vor allem selbst zu Wort
kommen, und zwar in der Vielfalt ihrer Erscheinungen und Stimmen. Manche ihrer Ansichten kann ich
nicht umhin zu kritisieren, doch viele gebe ich ganz ungefiltert wieder.
***
Teil I, »Tsunami«, berichtet davon, wie einfache Leute vor allem in den Küstenstädten, die die
Flutwelle des 11. März 2011 am schlimmsten getroffen hatte, die Katastrophe durchgestanden haben.
Ich war Berichterstatter vor Ort in den zehn Tagen unmittelbar nach dem Seebeben und kehrte in den
darauffolgenden Monaten sowie im folgenden Jahr immer wieder nach Japan zurück. Aus Interviews
und zeitgenössischen Berichten versuche ich ein Bild zu rekonstruieren von dem, was in den

schrecklichen Augenblicken geschah, als die Flutwelle Rikuzentakata traf, einen kleinen Fischerort
von 23000 Einwohnern in der Präfektur Iwate. Ich schreibe auch von meinen eigenen Eindrücken aus
der benachbarten Stadt Ofunato, die ich in den Tagen, Wochen und Monaten nach der Katastrophe


gesammelt habe. Aus diesen Kapiteln kristallisiert sich, dokumentiert an einem singulären Ereignis,
die Idee der japanischen Widerstandsfähigkeit heraus. Für ein besseres Verständnis dieser Fähigkeit
müssen wir tiefer in die Geschichte und Kultur eines Landes eintauchen, das wegen der ständigen
Bedrohung durch Erdbeben, Tsunamis, Vulkane und Wirbelstürme schon lange »für
Schicksalsschläge gewappnet ist«.5
Teil II, »Das doppelt verriegelte Land«, umfasst ein Kapitel darüber, wie Japan von sich selbst die
Vorstellung einer besonderen Nation bildete. Zu einem Teil stammt seine Widerstandsfähigkeit aus
seinem Selbstverständnis, anders zu sein, freilich behaupte ich, dass dieses Selbstverständnis eine
Quelle der Kraft wie auch der Schwäche ist. Angesichts der technischen Überlegenheit des Westens
vollzog Japan im 19. Jahrhundert einen Bruch mit der konfuzianischen Tradition. Es löste sich aus der
asiatischen Welt und nannte sich fortan »europäisch«. Dann fiel es über seine Nachbarn her und
unterjochte sie. Auch heute noch ist es für Japan nicht leicht, den Weg zurückzufinden. Japan bleibt
eine Insel in einer Weltgegend, in der der alte Hass noch nicht überwunden ist. Sogar Börsenhändler
sprechen von »Asien außer Japan«.
Teil III, »Verlorene und wiedergewonnene Jahrzehnte«, bildet das Zentrum des Buches. Hier geht
es im Wesentlichen um das gegenwärtige Japan nach der Wirtschaftsblase, es beginnt aber mit einem
Rückblick auf Japans Auferstehung aus den Ruinen des Krieges und seinen Aufstieg zur
Wirtschaftsmacht in den 1970er- und 1980er-Jahren. Auf das Platzen der Blase in den 1990er-Jahren
folgte eine lange Periode relativer Stagnation, in die auch die Doppelkrise des Jahres 1995 fiel,
nämlich das Erdbeben, bei dem Kobe zum großen Teil zerstört wurde, und das Auftauchen einer
religiösen Sekte, die einen Anschlag auf Pendler in der Tokioter U-Bahn verübte. Jenes Jahr brachte,
wie Murakami hervorhob, einen Wendepunkt für Japan, denn selbst einfache Menschen begriffen,
dass es keine Rückkehr zu den Zeiten vor der Blase gab. In den Jahren des Wachstums war der Wille,
mit dem Lebensstandard der westlichen Länder gleichzuziehen, der zentrale Punkt des japanischen
Selbstverständnisses nach der Kriegsniederlage. Zwar hat Japan dieses Ziel erreicht, aber mit dem

Platzen der Blase wurde es um seinen nationalen Lebenszweck gebracht. Japan hat seinen
Kampfgeist, seinen Konjo verloren.
Teil IV, »Leben jenseits von Wachstum«, handelt davon, wie sich das heutige Japan an die neuen
Verhältnisse angepasst hat. Wir stellen die Behauptung auf, dass das Land nicht im Stillstand verharrt,
wie manche Beobachter meinen, obgleich der Wandel nicht durchweg gelungen und auch noch nicht
abgeschlossen ist. Zwei weitere Kapitel haben wirtschaftliche Themen – »Japan als Nummer drei«
und »Leben jenseits von Wachstum« – und zeigen, dass Japan seinen Lebensstandard gehalten und den
sozialen Zusammenhalt verteidigt hat. Seine Wirtschaft ist zwar nicht robust, steht aber nicht so
schlecht da, wie diejenigen behaupten, die Japan als Synonym für alles nehmen, was wirtschaftlich
falsch gemacht werden könne. Beurteilt man Japans Wirtschaft im Hinblick auf den Lebensstandard
der Bevölkerung und auf die Renditen der Investoren, dann sind die vergangenen 20 Jahre
wirtschaftlich nicht so verheerend gewesen.
Japan hat seinen Lebensstandard gehalten um den Preis einer bis dahin nicht da gewesenen hohen
Verschuldung des Staatshaushalts. Experten meinen, dass dieser Weg unfehlbar in die Krise führe.
Irgendwann wird der Staat diese Schulden abtragen müssen, entweder zwangsweise (was eher


unwahrscheinlich ist) durch Kürzung der staatlichen Sozialausgaben, oder indem er die Inflation still
wirken lässt. Möglicherweise wäre es besser gewesen, im Interesse einer langfristigen Verjüngung
der Wirtschaft mehr Pleiten und industrielle Umstrukturierungen zu erlauben.
Doch wie auch Europa und die USA jetzt gerade erleben, erholt man sich nicht so leicht von einem
schweren wirtschaftlichen Schock. Als es hart auf hart kam, waren sogar die USA mit ihrer freien
Marktwirtschaft nicht bereit, ihre Banken und ihre Autoindustrie pleitegehen zu lassen. Zu Beginn des
Jahres 2013 lag die Arbeitslosigkeit bei rund acht Prozent, und die Konjunktur war immer noch
schwach, wenngleich sie sich langsam erholt. In Großbritannien war die Arbeitslosenrate doppelt so
hoch, und die Wirtschaft war gegenüber 2008 um vier Prozent geschrumpft. Ländern wie Spanien
oder Griechenland ging es noch deutlich schlechter. Wie Japan haben auch andere Länder mit hohen
Defiziten und niedrigem Wachstum zu kämpfen und müssen zu bisher kaum vorstellbaren
geldpolitischen Maßnahmen greifen, um ihre Volkswirtschaften einigermaßen in Gang zu halten.
Japan wird gern als ein warnendes Beispiel angesehen. Die Lektion könnte weniger darin bestehen,

wie schlecht Japan mit dem Platzen der Spekulationsblase fertiggeworden ist, als vielmehr wie gut es
noch immer dasteht. Wenn uns das japanische Beispiel eines lehren kann, dann dieses: Man vermeide
Spekulationsblasen.
Das Kapitel »Samurai mit Tolle« beschäftigt sich mit der Amtsperiode des Premierministers
Koizumi, als sich das ganze Land um einen neuen Staatslenker scharte, der Lösungen für die
Wirtschaft versprach. Koizumi versuchte, auch dem politischen System, das in der stagnierenden
Wirtschaft vor sich hin dümpelte, neues Leben einzuhauchen. Seine Drohung, die eigene Partei zu
zerstören und eine 50-jährige Vorherrschaft zu beenden, führte zu seinem Abgang, doch seither hat
kein lebensfähiges Zweiparteiensystem den alten Status quo ersetzt. Japans politisches System bleibt
weiterhin ohne Kurs. In den beiden letzten Kapiteln – »Der gelobte Weg« und »Hinter dem Schirm
hervor« – geht es um den sozialen Wandel, der mit dem Zerbrechen des herkömmlichen Modells im
Nachkriegs-Japan einsetzte. Die Bürger leben jetzt mit weniger Gewissheiten und, vor allem die
Jugend und die Frauen, auch weniger sicher. Mit der Erosion alter Gewissheiten kommen aber auch
neue Gelegenheiten. Die beiden Kapitel untersuchen, wie die Japaner mit diesen Problemen fertig
werden.
Teil V, »Quo vadis, Japan?«, befasst sich mit der ernsten diplomatischen Herausforderung, der
Japan in einer Zeit gegenübersteht, da seine eigene Macht schwindet und diejenige Chinas zunimmt.
Chinas Erwachen bringt Japan in eine schwierige Lage, denn eine unbewältigte Vergangenheit und
territoriale Streitigkeiten belasten das politische Klima in dieser Weltregion. Der Streit mit China
wegen ein paar unbewohnter Inseln zwischen Okinawa und Taiwan ist Gegenstand anhaltender
Spannungen zwischen den beiden Ländern geworden. Die chinesische Drohung facht in Japan die alte
Frage an, welcher Platz Japan in der Welt gebührt und was seine Identität ausmacht.
Teil VI, »Nach dem Tsunami«, schaut genauer auf das, was sich in der japanischen Gesellschaft
geändert hat und was nicht. Die Ereignisse in Fukushima legen nahe, dass viel vom »alten Japan«
weiter besteht. Die Unfähigkeit, angemessen auf den Reaktorunfall zu reagieren und die Öffentlichkeit
zu informieren, ist ein Beleg für ein fehlerhaftes politisches System mitsamt seiner Bürokratie. Doch
in der Krise zeigte sich auch Gutes. Japan spürt, dass es Verbindungen mit dem Rest der Welt hat,


wie die zahlreichen Spenden aus nah und fern bewiesen haben. Eine Beamtin des Außenministeriums

war den Tränen nahe, als sie mir mitteilte, die afghanische Stadt Kandahar habe 50000 Dollar für den
Wiederaufbau gespendet. Die Japaner selbst entdeckten den Nordosten ihres Landes neu, der zwar
immer schon von den Dichtern wegen seiner landschaftlichen Schönheit gepriesen wurde, der aber im
Allgemeinen als rückständig galt. Nun imponierte ihnen die unglaubliche Zähigkeit der dortigen
Menschen, was auf Japanisch Gamanzuyoi heißt. Freiwillige kamen in Scharen, um bei den
Aufräumarbeiten zu helfen. Die Zivilgesellschaft, gestärkt durch die Gesetzgebung der vergangenen
Jahre und ein wachsendes bürgerliches Engagement, machte auf sich aufmerksam. Die Japaner, die
nach dem Krieg heftige ideologische Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken erlebt
hatten, ehe das Wirtschaftswunder der 1960er-Jahre allen Zwist überdeckte, lernen nun wieder, was
es heißt, sich zu organisieren, eine gesellschaftliche Debatte zu führen und den Konsens infrage zu
stellen. Diese Tendenz macht sich nach Fukushima stärker bemerkbar, zumal die
Antiatomkraftbewegung an Zustrom gewann und die durch Tsunami beziehungsweise radioaktive
Strahlung Betroffenen auf Entschädigung pochten.
Und schließlich haben einfache japanische Bürger in den Fischerorten im Nordosten Japans, kaum
dass die Scherben weggefegt und die Toten gezählt waren, mit beeindruckender Menschlichkeit und
seelischer Stärke begonnen, ihre zerstörten Existenzen wieder aufzubauen. Ein japanischer
Dramatiker sagte, das Handeln dieser Menschen zeuge »von einer starken Tradition, eingedenk der
Vergänglichkeit des Lebens dennoch seinen Weg zu gehen«.6 Die einzige Gewissheit, die sie hatten,
war, dass der nächste Tsunami kommen werde. In vielen Fällen zeigten sie einen Pioniergeist, den
man eher im amerikanischen Westen als in Japan erwartet hätte, wo man zu Unrecht nur Uniformität
und subalternes Denken vermutet. Nach der Doppelkatastrophe von Erdbeben und Tsunami warteten
die Leute im Nordosten nicht auf die Hilfe eines Staates, in den sie wenig Vertrauen haben.
Stattdessen stellten sie sich der Situation und packten selbst an. In ihren persönlichen Geschichten,
die von Durchhaltevermögen und Überlebenswillen künden, steckt für uns eine Botschaft der
Hoffnung und des Mutes.


TEIL I
TSUNAMI
Tsunami

Im Jahr 1666 gab ein Territorialherr namens Heitazaemon Yamazaki, ein ehemaliger Pionier, die
Anordnung an die begüterten Kaufleute des Fleckens, aus dem später Rikuzentakata wurde, Kiefern
anzupflanzen. Die robusten Schwarzkiefern sollten auf einem zweieinhalb Kilometer langen Streifen
sandigen Strands zwischen dem Städtchen und dem Pazifischen Ozean gepflanzt werden. Die
zerklüftete Küste des nordöstlichen Teils von Japan, Letzteres selbst eine abgelegene, unter
Feudalherrschaft stehende Insel, gehörte damals zu den fischreichsten Gewässern der Erde. Neben
einer Vielfalt von Fischen gab es und gibt es immer noch reichlich Seetang und Schalentiere. Aber
die Gegend war auch rau und nicht ohne Gefahren. Die salzige Seeluft und die hohe Flut waren Gift
für das Ackerland. Und ungefähr einmal in jeder Generation – nicht häufig, sodass es verdrängt
werden konnte, aber doch oft genug, um nicht ganz vergessen zu werden – baute sich eine gewaltige
Springflut am Horizont auf und brach über das Städtchen herein.
Und so pflanzten vor 350 Jahren die Einwohner von Rikuzentakata Bäume in der Hoffnung, für ihre
Häuser und ihre Äcker einen Schutz gegen die Unbilden von Wind, Salz und Meer zu erhalten. In den
ersten sieben Jahren wurden 18000 Bäume gepflanzt. Die folgenden Generationen verstärkten diesen
natürlichen Schutzwall. Das Unternehmen gewann noch an Dringlichkeit, als die Goldminen in den
nahe gelegenen Bergen erschöpft waren und die Bürger von Rikuzentakata nun ihre Produktion an
Reis und anderen Feldfrüchten erhöhen mussten. Mitte des 18. Jahrhunderts standen schon 70000
Kiefern wie eine Schutztruppe in geschlossenen Reihen vor dem Ozean. Einheimische machten
Spaziergänge auf den schattigen Pfaden des Kiefernhains oder veranstalteten Essen mit Blick aufs
Meer. Junge Paare verabredeten sich zum Rendezvous an dunklen Plätzen. In neuerer Zeit wurden die
70000 Kiefern eine Touristenattraktion. Im Jahr 1927, ein Jahr nach der Thronbesteigung des Kaisers
Hirohito, wurde der Strand in die Liste der 100 schönsten Landschaften Japans aufgenommen. Die
uralten Bäume standen weiterhin in Reih und Glied entlang des weißen Sandstrands zwischen den
Holzhäusern von Rikuzentakata und der Bucht, die mit den vielen anderen steilen Einschnitten der
wildromantischen Küste ein gezacktes Muster wie die Zähne einer Säge bildete.
Noch näher an der Gegenwart, genauer im Jahr 1989, dem Todesjahr Kaiser Hirohitos, wuchs
gleich hinter dem Strand ein Gebäude in den Himmel. Das Capital Hotel war mit seinen sieben
Stockwerken aus weiß getünchtem Backstein und mit einer Wendeltreppe, die es mit der Treppe zum
Erste-Klasse-Deck der Titanic aufnahm, das höchste und imposanteste Bauwerk der Stadt. In der
Hotelhalle hing ein großes Gemälde, auf dem man kleine Kinder sorglos am Strand spielen sah.

Durch eine Glastür gelangte man auf die Terrasse zu einem ovalen Swimmingpool. Da das Hotel gern
für Hochzeiten genutzt wurde, war für die Bräute eigens ein Raum reserviert, wo sie sich für die
Trauzeremonie umziehen und zugleich einen Blick auf den berühmten Kiefernhain von Rikuzentakata
werfen konnten.


Das Geld für den Bau des Capital Hotel kam aus der Spekulationsblase der wilden 1980er-Jahre.
Als die Blase platzte, ging das Hotel wie so viele Anlageobjekte in den Besitz der Stadtverwaltung
über. Die Hauptinvestoren waren anfangs der Direktor einer Baufirma und ein ortsansässiger Sänger
von schmalzigen Enka-Schlagern. Beide wollten der heimischen Wirtschaft etwas Gutes tun, und das
Capital Hotel war sicherlich dafür geeignet. Seine weiß getünchte Fassade und seine zum Meer
orientierte Lage machten es bei den 23000 Einwohnern des rauen Küstenstädtchens zur ersten Wahl
für Familienfeste, Innungsfeiern und Bestattungszeremonien. Wie der Verkaufsleiter des Hotels,
Kazuyoshi Sasaki, sagte: »Für eine Kleinstadt in der Provinz war das wirklich ein schönes Hotel.«
Für einen Japaner war Sasaki recht stämmig, er hatte ein freundliches Gesicht und einen
selbstironischen Humor. Auch wenn er über sehr ernste Dinge sprach, lag stets ein leises Lächeln auf
seinen Lippen. Nun ein Mann Ende der 50er, war er in Rikuzentakata geboren wie vor ihm seine
Eltern, seine Großeltern und Urgroßeltern. Im Jahr 1734, also zu einer Zeit, als Japan vom Rest der
Welt fast ganz abgeschnitten war, gründeten Sasakis Vorfahren eine Firma, um aus Kamelien Samenöl
zu gewinnen. Die Firma trug den Namen Aburaya. Im Lauf der Jahre wurde aus dem kleinen Laden
ein allgemeiner Lebensmittelhersteller mit angeschlossenem Großhandelsgeschäft, der sich über
mehrere Generationen bis ins 21. Jahrhundert hielt. Erst 2006 nach über 270 Jahren Firmentradition
ging Aburaya pleite als Folge der zurückgehenden Einwohnerzahl in Rikuzentakata und des harten
Wettbewerbs mit größeren, gewiefteren Konkurrenten. Sasaki dachte zuerst daran, die Stadt möglichst
rasch zu verlassen, um, wie er es sah, der Schande zu entgehen, seine Mitarbeiter um ihre Stelle
gebracht und die Familientradition verraten zu haben. Doch die Firma musste in geordneter Form
abgewickelt werden. Deshalb blieben Sasaki und seine Frau in Rikuzentakata, und Sasaki fand eine
neue Beschäftigung im Capital Hotel.
Am Morgen des 11. März 2011, einem Freitag, hatte sich Sasaki auf den Weg gemacht, um im
Namen des Hotels dem gerade verstorbenen Yukio Shimizu, einem Mitglied des Stadtrates, die letzte

Ehre zu erweisen. Viele Freunde und Familienangehörige hatten sich zur Totenwache versammelt und
nahmen Abschied von dem Verstorbenen, damit dessen Seele leichter die Reise ins Yomi no Kuni, ins
Jenseits, antreten könne. Bei solchen Gelegenheiten verbrennen die Trauernden Weihrauch und leisten
dem Verstorbenen singend und betend eine Nacht lang Gesellschaft. Sasaki hatte sich in das
Trauerhaus begeben, um die Sitzordnung für die buddhistische Bestattungszeremonie zu besprechen,
die am nächsten Tag im Capital Hotel stattfinden sollte. Das Haus, in dem Shimizus Totenwache
abgehalten wurde, befand sich in Höhenlage in den Bergen über dem Talgrund, wo sich die Stadt
Rikuzentakata ausdehnte. Sasaki stellte später ironisch fest: »Wenn sich die Leute nicht zur
Totenwache versammelt hätten, wären wohl viele von ihnen umgekommen.«
Sasaki selbst blieb nicht lange im Trauerhaus. Am frühen Nachmittag kehrte er ins Capital Hotel
zurück und betrat um 14:46 Uhr sein Büro. Er erinnert sich genau an den Zeitpunkt, denn gerade in
jenem Augenblick begann die Erde zu beben.
***
Japaner haben eine lange Erfahrung mit Erdbeben. In früheren Epochen schrieben sie diese


wiederkehrenden Ereignisse Onamazu, einem riesigen Wels zu, der angeblich die japanischen Inseln
auf seinem Rücken trug. Gewöhnlich wurde der Fisch von einem mächtigen Felsblock auf den
Meeresboden gedrückt, den wiederum der Erdgott Kashima in Stellung hielt. Wenn aber Kashima
einmal in seiner Wachsamkeit nachließ, wand sich Onamazu los, schüttelte sich und brachte damit
die Erde zum Beben.1 In den Tagen des Großen Erdbebens von Ansei im Jahre 1854, bei dem die
Verheerungen von Kyushu bis Tokio reichten, kamen Holzschnitte von dem mythischen Wels in der
Hauptstadt auf. Die Japaner haben auch die Tsunamis, die oft im Gefolge großer Erdbeben auftreten,
in lebhafter Erinnerung. Die monumentale Bronzestatue des Buddha in Kamakura ist ungeschützt dem
Wetter ausgesetzt, denn die Halle, in der er einst stand, wurde 1498 von einer gewaltigen Welle
fortgespült. Die japanische Küste wird von verwitterten, an kleine Grabsteine erinnernde Steintafeln
gesäumt, die künftige Generationen warnen, ihre Häuser weiter weg vom Meeresufer zu bauen.
Lafcadio Hearn, ein irisch-griechischer Schriftsteller, der im späten 19. Jahrhundert 15 Jahre lang in
Japan verbrachte, schildert sein Gastland als »ein Land der Instabilität, in dem Flüsse ihr Bett,
Küsten ihren Verlauf und Täler ihr Niveau verändern«.2 Ein japanischer Seismologe hat errechnet,

dass der gesamte Archipel seit dem fünften Jahrhundert 220 Erdbeben katastrophaler Stärke erlebt
habe.3 In der Neuzeit erfuhren die Japaner, dass die Inseln, auf denen sich ihre Vorfahren
niedergelassen hatten, zu der geologisch unruhigsten Region der Erdkruste gehören, wo mehrere
tektonische Platten zusammenstoßen und einen Teil des sogenannten Pazifischen Feuerrings bilden.
Jedes neunte Erdbeben ereignet sich in dieser unruhigen Region, weshalb Japan die am meisten durch
Erdbeben heimgesuchte Nation ist. Den größten Teil des Jahres über ist irgendwo in Japan ein
leichtes Beben spürbar. Die Menschen sind so sehr an diese Unannehmlichkeiten gewöhnt, dass sie
bei kurzen Beben, selbst wenn die Schiebetüren scheppern oder Lampenschirme schaukeln, nicht
einmal im Gespräch innehalten.
Aber das Erdbeben am 11. März um 14:46 Uhr war kein leichtes Beben. Jeder, der an jenem
Nachmittag spürte, wie der Boden plötzlich zu wackeln begann, wusste augenblicklich, dass etwas
ganz und gar Ungewöhnliches geschah. Mit einer Stärke von 9,0 Punkten auf der Richterskala war es
das viertstärkste Erdbeben, seitdem es historische Aufzeichnungen gibt. Seine Mächtigkeit entsprach
der Energie von 600 Millionen Atombomben der Hiroshima-Klasse. Das Epizentrum lag unter dem
Meeresgrund 72 Kilometer von der Nordostküste Japans entfernt und südlich von Rikuzentakata.
Geologen ermittelten später, dass es sich um ein großes Unterwasserseebeben handelte, solche die an
den Rändern tektonischer Platten entstehen, und sich an der Stelle ereignete, wo sich die Pazifische
Platte unter die Nordamerikanische Platte, auf der sich auch Japan befindet, schiebt.4 Ein
Kommentator veranschaulichte den Vorgang, bei dem diese Platte der Erdkruste nach oben geschoben
wurde, mit dem Bild einer Spielkarte, die zwischen Daumen und Zeigefinger gebogen werde.5 Bog
sich die Platte zu weit, löste sich die aufgebaute Spannung ruckartig und zwang die
Nordamerikanische Platte, zurückzuschnellen. In diesem Augenblick verschob sich die Hauptinsel
Japans um rund vier Meter nach Osten.
Der Ruck ereignete sich 32 Kilometer unter dem Meeresgrund. Eine solch vergleichsweise geringe
Tiefe bedeutet, dass sich ein Großteil der Energie an die Oberfläche fortpflanzt. Daher war das
Beben atemberaubende sechs Minuten lang in weiten Teilen Japans zu spüren. Viele Menschen


erzählten später, das Beben habe noch an Stärke zugenommen, während sie um Erlösung beteten. In
Tokio schwankten die Hochhäuser, von denen viele auf elastischen Fundamenten ruhten, wie Bambus

im Wind. Das Schwanken wurde so heftig, dass Büroangestellten übel wurde, als ob sie in einem
Boot auf hoher See gewesen wären. In Rikuzentakata, wo man dem Epizentrum viel näher lag, bebte
die Erde noch stärker. Ein Zeuge beschreibt das dabei entstandene Geräusch wie Donnerhall.6 Kaum
war das höllische Donnern zu Ende, hatten die meisten Menschen nur einen Gedanken: Tsunami.
Sasaki, die Papiere für Shimizus Bestattung noch in der Hand, hastete die Treppe zum Dach des
Capital Hotels hinauf, das drei Stockwerke höher war als das höchste Gebäude in der Stadt. Die
Lichter im Hotel waren ausgegangen, wie übrigens auch überall in Rikuzentakata. Im dunklen
Treppenhaus ertasteten sich er und 30 weitere Hotelangestellte ihren Weg nach oben. Vom Dach aus
blickten sie umher. Trotz der Heftigkeit des Bebens waren an den Gebäuden keine Spuren großer
Schäden zu sehen. Das Meer sah flach und ruhig aus, obwohl die Tsunami-Sirene bereits heulte.
Wenige Minuten später teilte der Hoteldirektor mit, dass ein Bus für die Evakuierung des Personals
bereitstehe. Nachdem Hotelangestellte überprüft hatten, dass sich niemand mehr im Gebäude befand,
fuhr der Bus gegen 15 Uhr los. Die Zufahrtsstraße zum Hotel war mit Privatautos verstopft, die sich
alle retten wollten. Die Schranken des Bahnübergangs ein paar Häuserblocks landeinwärts waren
geschlossen, sodass sich der Verkehr staute. Deshalb schlug der Bus eine andere, längere Route ein,
die für einige Minuten der Küstenstraße folgte, ehe sie in die umliegenden Berge führte. Um
15:08 Uhr befanden sich Sasaki und das Personal des Capital Hotel in Sicherheit.
Weit draußen auf See, wo sich die Erdkruste gehoben hatte, setzte eine gewaltige Welle zu ihrer
Verwüstung bringenden Reise an. Als sie viele Stunden später fast 13000 Kilometer weiter das
Sulzberger Schelfeis im Süden der Antarktis erreichte, war ihre Kraft noch so groß, eine Eisfläche
von der Größe Manhattans abzubrechen.7 Vorher hatte die Springflut mehr als 400 Kilometer der
Nordostküste Japans verheert. Am Anfang pflanzte sich die Welle mit 800 Stundenkilometern fort,
der Geschwindigkeit eines Düsenjets. Beim Annähern an die Küste nahm die Geschwindigkeit ab,
erst auf das Tempo eines Hochgeschwindigkeitszuges, dann auf das eines Autos. Kurz nach
15:20 Uhr, etwas mehr als 30 Minuten nach dem ersten Beben, brandete die Welle in die Bucht, an
der Rikuzentakata liegt.
Unser Bild von einem Tsunami ist von Hokusais herrlichem Holzschnitt geprägt, der eine mächtige,
sich auftürmende Welle zeigt, die sich über das Land ergießt. Echte Tsunamis sind weniger poetisch,
aber dafür unheilvoller. Auf hoher See ist die Welle gar nicht hoch, kann aber mehrere Hundert
Kilometer lang sein. Tsunamis pflanzen sich, oft unbemerkt von sie passierenden Schiffen, als kräftige

Woge fort, bis sie sich in Landnähe zu gewaltiger Höhe auftürmen. Tsunamis bestehen auch nicht aus
einer einzigen großen Welle. Der erste Anprall ist auch nicht der verheerendste, oft richten sie
größeren Schaden an, wenn die Welle zurückläuft und dann mit noch größerem Druck gegen die Küste
donnert. In Rikuzentakata dauerte es nur Minuten, bis die Welle eine Bresche in die von den
Stadtplanern für sicher gehaltene sechs Meter hohe Betonmauer geschlagen hatte. War dieses
Hindernis überwunden, lag Rikuzentakata schutzlos vor ihr. Die Wassermassen ergossen sich an
mehreren Stellen in die Stadt, füllten das zentrale Flussbett und rasten in die Talebene hinein, bis
Land und Meer nicht mehr zu unterscheiden waren. Den Menschen blieb nur die Flucht.


Wer vom Boden aus das Herannahen des Tsunamis beobachtete, dem fiel zuerst ein Dunst auf, der
von den unter der Wucht des Wassers zusammenbrechenden Gebäuden aufstieg. Der geisterhafte
weiße Staub wallte vor der Welle wie ein schreckliches tödliches Omen. Begleitet wurde er vom
Knirschen und Krachen der einstürzenden Gebäude. Manche riss die Welle in einem Stück von ihren
Fundamenten fort, verwandelte sie in gefährliche Geschosse, die alles zertrümmerten, was ihnen in
den Weg kam. Wer begriff, was da geschah, und das Nötige zur Flucht parat hatte, fuhr oder rannte
hinauf in die Berge, während das Wasser sich unaufhaltsam in der Talebene ausbreitete. Viele
Tsunami-Opfer waren zu alt und gebrechlich, um fortzulaufen, aber auch viele Jüngere in
Rikuzentakata kamen beim Versuch um, älteren Verwandten und Nachbarn zu helfen. Es gab Leute,
die sich hätten retten können, es aber nicht für nötig hielten, zu fliehen, weil sie so weit weg von der
Küste waren. »Sie blieben in ihren Häusern, obwohl sie leicht die Anhöhen erreicht hätten«, sagte
Sasaki. Nach Zeugenaussagen brauchte der Tsunami nur wenige Minuten, um das knapp vier
Kilometer lange Tal zu durcheilen. »Die ganze Stadt war in vier Minuten überschwemmt«, präzisierte
Sasaki, der bei der Erinnerung immer noch schockiert war. »Wer die Welle sah, für den war es
bereits zu spät.«
Fotos, die eine Gymnasiastin in Rikuzentakata geschossen hat, belegen die ersten Minuten der
verheerenden Welle. Auf den ersten Aufnahmen sieht man, wie das Wasser den Fluss hinaufsteigt, der
die Stadt durchquert. Der Fluss führt zwar Hochwasser, scheint aber nicht zu größeren Schäden fähig.
Ein paar Aufnahmen weiter ist das Wasser schon reißend und zerstört eine kleine Brücke. Ehe die
erste Flutwelle abebben konnte, drängte schon die nächste über die Betonmauer und erhöhte die

Wassermasse. Nach späteren Berechnungen muss die Welle zwölf Meter hoch gewesen sein, als sie
durch das Tal eilte. Nun zeigen die Fotos losgerissene Holzhäuser, die mit intakten Dächern wie auf
einem Lavastrom durch das Tal getragen werden. Ein ganzer »Mos Burger«, ein Restaurant einer
Imbisskette, treibt wie ein führerloses Boot durch das Tal. Deutlich sieht man das große rote M des
Firmenlogos auf dem Dach, wie es sich dem Krankenhaus nähert. Als es dort ankommt, ist das Dach
auseinandergebrochen. Das Wasser sieht jetzt wie aufgewühlter Schlamm aus. Eine andere Fotoserie,
diesmal von einem Feuerwehrmann aufgenommen, der auf eine Antenne geklettert war, liefert Bilder
wie von einer sturmdurchtosten Meeresoberfläche. Der einzige Hinweis, dass es sich um überflutetes
Land handelt, ist das Zifferblatt der Stadtuhr, das aus den kochenden Wogen schaut.
Die in die Bucht ein und aus rollenden Wassermassen rissen Trümmer mit sich und schleuderten
sie – Boote und Häuser, Autos und Fabriken – todbringend gegen alles, was sich ihnen in den Weg
stellte. Holz, Beton, Glas, Knochen, alles wurde zu Geschossen. Baumstämme und Stahlträger
brachen durch die Fensterfront des dritten Stockwerks des Maiya-Einkaufszentrums. Im städtischen
Krankenhaus spielten sich grauenhafte Szenen ab. Wasser brach in die Krankenstation im vierten
Stock ein, wo sich viele bettlägerige alte Patienten befanden. Das Wasser riss sie auf ihren Matratzen
mit. Einige hatten das Glück, auf dem Dach zu landen, andere ertranken auf der Stelle. Die
Überlebenden wurden vom Pflegepersonal in schwarze Müllsäcke gehüllt, um sie bei Temperaturen
nahe null Grad vor dem Erfrieren zu retten. Die meisten verbrachten die Nacht auf dem Dach,
während im Dunkel unter ihnen das Wasser weiter wütete.8
Überall in der Stadt kam es zu ähnlichen verzweifelten Überlebenskämpfen. Im Rathaus kletterten


Verwaltungsangestellte auf das Dach des vierten Stocks. Von dort beobachteten sie mit Ferngläsern
das Meer und sahen, wie die erste Welle die Betonmauer überwand. Binnen Minuten waren sie selbst
von Wasser umgeben und Wellen schwappten über das Dach. Wer die Kraft besaß, hievte sich und
andere auf eine erhöhte, gerade noch aus dem Wasser ragende Partie des Daches. Von hier blickte
Bürgermeister Futoshi Toba, der es zu landesweitem Ruhm brachte, auf die Grundschule hinüber, wo
seine beiden Kinder Schüler waren. »Ich wusste, dass meine beiden Kinder in der Schule waren und
dass sich die Lehrer um sie kümmern würden«, sagte er.9 Er war mehr in Angst um seine Frau. Sie
war wahrscheinlich zu Hause, als die Erde bebte, und von seinem erhöhten Aussichtspunkt sah Toba,

dass sein Haus überflutet war. Die Telefonverbindungen funktionierten nicht mehr. Es bestand daher
keine Möglichkeit, sich nach ihrem Verbleib zu erkunden, bis das Wasser wieder abgeflossen sein
würde. Toba fühlte sich zwischen den Pflichten eines Bürgermeisters und denen eines Familienvaters
und Ehemanns hin- und hergerissen. »Ich bin schließlich auch nur ein Mensch«, sagte er später, »und
man macht sich einfach Sorgen.« Am Ende überlebten seine Kinder. Seinem Sohn, dem 12-jährigen
Taiga in der Takata-Grundschule, riet dessen Lehrer, um sein Leben zu rennen. Später sagte der Junge
einem Reporter: »Es war wie in einem Godzilla-Horrorfilm. Man sah, wie die Welle immer näher
kam und dabei Häuser niederriss. Die Welle kam langsam, aber mit ungeheurer Kraft.«10 Taigas
Mutter, die Ehefrau des Bürgermeisters, hatte nicht so viel Glück. Sie war eine von den mehr als
1900 Einwohnern, die an jenem schrecklichen Tag vom Wasser fortgespült wurden.
In der Takata-Oberschule am anderen Ende der Stadt wurde die Schwimmmannschaft vermisst.
Vor dem Ausbruch des Erdbebens hatten sich die zehn Mitglieder auf den Weg zum Training im
nagelneuen städtischen Hallenbad gemacht. Die Schwimmabteilung warb mit einer Inschrift: »Wenn
Wasser dein bevorzugtes Element ist, dann ist es auch die Medizin für Frieden, Gesundheit und ein
langes Leben.« Weder die Mannschaft noch ihre junge Schwimmlehrerin wurden jemals
wiedergesehen.11
Mehr als 70 Personen hatten sich in der Sporthalle, eine von mehreren Notunterkünften,
eingefunden. Die Fachleute, die die Notfallpläne für Tsunami-Katastrophen ausgearbeitet hatten,
waren der Ansicht, dieses Gebäude sei außer Reichweite der höchsten Wellen. Als sich die
Nachricht verbreitete, dass die erste Welle die Betonschutzmauer durchbrochen hatte, flüchteten sie
auf die Zuschauerränge, von wo aus sie schon seit vielen Jahren Basketballspiele und TaikoTrommelwettbewerbe verfolgt hatten. Dann brach Wasser in das Gebäude ein, konnte nicht abfließen
und wirbelte in dem kuppelförmigen Bau wie in einer Waschmaschine herum. Sasaki beschrieb später
das Geräusch mit den japanischen Wörtern »guru, guru, guru«. Die entsetzten Menschen versuchten,
an den Stahlträgern hinaufzuklettern, die das Dach der Halle stützen. Einigen gelang es, doch
insgesamt 67 Menschen starben an jenem Abend. Die Uhr über den Sitzreihen im zweiten Rang blieb
um 15:30 Uhr stehen und zeigte damit an, wann das Wasser die Decke fast erreicht hatte. Zu einem
bestimmten Zeitpunkt wurde der Druck der Wassermassen so groß, dass sie durch die rückwärtige
Hallenwand brachen und ihren Weg der Verwüstung draußen fortsetzten. Einheimische nannten das
gewaltige Loch, das im zerstörten Gebäude gähnte, später »das Teufelsmaul«.12
Während sich diese schrecklichen Szenen in der Stadt abspielten, stand Sasaki auf seinem

Beobachtungsposten oben in den Bergen und sah auf die Überschwemmung hinunter. Auch er war in


Sorge um seine Frau, die 57-jährige Miwako. Da es kein Funknetz mehr gab, konnte er sie nicht
telefonisch erreichen. Auch er beobachtete entsetzt, wie die Welle über die Betonschutzmauer fuhr.
Der Staub eingestürzter Gebäude hing als gespenstischer Rauch in der Luft. Dann sah er etwas, was
er niemals für möglich gehalten hätte. Der Wald aus 70000 Kiefern verschwand nach und nach vor
seinen Augen. Jede neue Welle knickte die hoch aufragenden Baumstämme wie Streichhölzer um. Der
Anblick war so gespenstisch und irreal wie der wandernde Wald von Dunsinane in Shakespeares
Macbeth. »Ich fühlte mich wie benommen und begriff nicht recht, was da geschah«, erinnerte sich
Sasaki.13
Seine Frau war wohl unterwegs gewesen, ihre Soba-Nudeln zu liefern, als plötzlich die Erde zu
beben begann. Beim Geheul der Tsunami-Sirene musste sie versucht haben, zu ihrem Haus
zurückzukehren, das zwei Kilometer von der Küste entfernt lag. Sie schaffte es nicht. Ein
Feuerwehrmann, der zu den ersten Rettungsleuten gehörte, die in die Stadt kamen, beschrieb die
Szene wie folgt: »Die Leute auf den erhöhten Posten schrien wie außer sich, ihre Münder weit offen.
Den ganzen Fluss hinauf fanden wir keine lebenden Menschen, nicht einen.«14 Nach nur wenigen
Minuten war die ganze Stadt Rikuzentakata wie ausradiert. Ein Zehntel der Einwohnerschaft war tot
oder vermisst. Von vier Fünfteln der Häuser blieb nur noch Kleinholz übrig. Sogar die wenigen
Betonbauten, darunter auch das Capital Hotel, waren zerstört, Trümmer in den reißenden
Wassermassen hatten das Innere demoliert. Wie Sasaki mit eigenen Augen gesehen hatte,
verschwanden binnen weniger Minuten auch die 70000 Kiefern, das Wahrzeichen der Stadt seit über
100 Jahren, in den wütenden Fluten. Sogar der Strand, auf dem die Bäume gestanden hatten, war
aufgewühlt und zum Teil fortgespült worden. Die gesamte Topografie der Stadt war nicht
wiederzuerkennen, die Küste zeigte jetzt andere Konturen. Der Boden entlang der Küste war um fast
60 Zentimeter abgesunken.15 Nichts war mehr so, wie es vorher gewesen war. Vielleicht mit einer
Ausnahme. Wie durch ein Wunder war eine 30 Meter hohe Kiefer, umgeben von all den anderen
geknickten Bäumen, herausfordernd stehen geblieben. Die Überlebenden von Rikuzentakata nannten
sie schlicht die einsame Kiefer.


Das Schicksal meistern
Die Maschine war fast leer und befand sich bei strahlend blauem Himmel im Anflug auf den Tokioter
Flughafen Haneda. Ich reckte den Hals, um alles dort unten sehen zu können. In meiner Vorstellung
war Japan nicht mehr der Landrücken, der fest mit der Erdkruste verbunden war, sondern ein Fetzen
Land, das von Feuer und atomaren Explosionen geschüttelt wurde, eine dünne Kruste, die auf einem
siedenden Meer schwamm. Doch aus dieser Höhe besehen, schien die Landebahn ganz normal und
das Land trittfest zu sein. Es war ein schöner heller Nachmittag. Rund 240 Kilometer nördlich von
Tokio nahm in dem beschädigten Atomkraftwerk von Fukushima die schlimmste Nuklearkatastrophe
seit Tschernobyl ihren Lauf. 160 Kilometer davon entfernt lag Rikuzentakata. Der Tsunami hatte
Tokio zwar ganz verschont, aber die Riesenstadt von 36 Millionen Einwohnern wurde weiterhin von
Nachbeben der Stärke 6,0 geschüttelt, was in Städten mit weniger erdbebensicheren Gebäuden zu


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