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alter, ist das herrlich! albtraum rente. eine analyse und auswege aus der armutsfalle (2007)

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Jürgen Hauser
Alter, ist das herrlich!


Jürgen Hauser

Alter, ist
das herrlich!
Albtraum Rente.
Eine Analyse und Auswege
aus der Armutsfalle


Bibliografische Information Der Deutschen Natioalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <> abrufbar.

1. Auflage 2007
Alle Rechte vorbehalten
© Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH,
Wiesbaden 2007
Lektorat: Guido Notthoff
Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.
www.gabler.de
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diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,


dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als
frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Umschlaggestaltung: Nina Faber de.sign, Wiesbaden
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Wilhelm & Adam, Heusenstamm
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-8349-0528-4


Inhalt

5

Inhalt

Einleitung________________________________________________ 7
1. Deutschland – der Status quo____________________________ 15
1.1 Deutschland? Und tschüss! ______________________________ 18
1.2 Hurra: Vollbeschäftigung! _______________________________ 30
2. Die demografische Alterung _____________________________ 47
2.1 Sinkende Geburtenraten – Warum eigentlich?________________ 50
2.2 Karriere! Kinder, Küche?________________________________ 59
3. Im Greisenland _______________________________________ 79
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6


Ist das greislich! _______________________________________
Junge, komm bald wieder … _____________________________
Know-how-Verlust durch unstrukturierte Wissensweitergabe____
Ältere verdienen mehr, leisten aber weniger als Jüngere. _______
Katastrophe Pflegefall __________________________________
Potenziale der „Generation Senior“ ________________________

79
82
83
88
90
93

4. Die Phantasie des Norbert Blüm: Die Rente ist sicher! _______111
4.1 Staatliche Zwangsveranstaltung Deutsche Rentenversicherung:
ein mieses Geschäft ___________________________________ 113
4.2 Ursachen ___________________________________________ 128
5. Versorgungslücken ___________________________________ 141
5.1 Man kann gar nicht genug tun!81 _________________________ 141
5.2 Versorgungslücken schließen____________________________ 144
5.3 Der Treppenwitz: Staatskurse zur Privatrente! ______________ 146


6

Inhalt

6. Auswege aus der Rentenfalle ____________________________149
6.1

6.2
6.3
6.4

Lösungen – nicht ganz ernst gemeint ______________________149
Anhebung des Renteneintrittsalters ________________________157
Her mit den Einwanderern! ______________________________157
Probate Lösungen _____________________________________163

7. Nieder mit dem finanziellen Analphabetismus! _____________165
7.1
7.2
7.3
7.4
7.5

Rente und Versorgung __________________________________166
Alterseinkünftegesetz – Neue Spielregeln beim Finanzamt _____170
Finanzieller Fünfklang – eine Sinfonie des Sparens ___________174
Produkte – Wege zum Ziel_______________________________181
Ihr Finanzplan – Klarheit und Wahrheit – viel Spaß! __________196

Nachwort _______________________________________________205
Herzlichen Dank _________________________________________215
Quellenverzeichnis _______________________________________217
Der Autor_______________________________________________223
Stichwortverzeichnis______________________________________225


Einleitung


7

Einleitung

Soziale Eislandschaft
Wir schreiben das Jahr 2030. Aufgrund der verfehlten Rentenpolitik der
letzten Jahrzehnte leben Millionen deutscher Rentner in Ghettos, in denen sie vor sich hinvegetieren. Die Alten leiden unter Hunger, Durst und
katastrophalen hygienischen Zuständen. Nach geltender Gesetzeslage ist
es Ärzten in Krankenhäusern erlaubt, kranke Alte mit deren Einverständnis mittels einer Giftspritze zu töten, um der Krankenkasse weitere Behandlungskosten zu ersparen. Dafür erhalten die Ärzte Prämien von den
Kassen. Im Fernsehen gibt Gesundheitsministerin Petra Kerzel bekannt:
„Den Generationenvertrag gibt es nicht mehr, denn zu einem Vertrag
gehören immer zwei. Wir können uns die bisherigen Rentenzahlungen
nicht mehr leisten. Deshalb wird es ab dem nächsten Monatsersten eine
Einheitsrente in Höhe von 560 Euro für jeden Rentner geben. Das reicht
zum Leben.“
Dies führt zum Aufstand der Rentner, die keine weiteren Mittel als die
560 Euro Einheitsrente zur Verfügung haben. Sie gründen das Kommando
„Zornige Alte“.
Da die Eigenbeteiligung für Arzneimittel bei 50 Prozent liegt, brechen
die Alten in Apotheken ein und stehlen die für sie nicht mehr bezahlbaren
Arzneimittel. Rentner überfallen Banken und verteilen Millionen Euro in
bar an Schwerstkranke, damit diese sich die für sie lebensnotwendige
Medizin kaufen können.
Die Firma ProLife kauft Rentnern ihren lebenslangen Rentenanspruch ab
und sichert ihnen mittels Prospektmaterial zu, sie nach Nakena in Westafrika zu bringen, wo sie als Gegenleistung in idyllischen Wohnanlagen ihr
Leben verbringen können.


8


Einleitung

Die Journalistin Lena Conradi erfährt, dass Paula Hammerschmidt in
Nakena spurlos verschwunden ist und reist nach Westafrika, um Nachforschungen anzustellen. Dort entdeckt sie riesige Hallen, die an Konzentrationslager erinnern. In den Hallen liegen hunderte Alte, dicht an
dicht auf Pritschen, eingekotet, die mittels einer Kanüle künstlich ernährt
werden. Zusätzlich hatte man ihnen das Betäubungsmittel Diazepam
verabreicht, um sie so im Dämmerzustand zu halten.
Lena Conradi ermittelt, dass die Rentner so möglichst lange am Leben
gehalten werden sollen, damit ProLife deren Rente kassieren kann. Als
der Skandal bekannt wird, tritt die Bundesregierung zurück, die diese
Machenschaften deckte.


Einleitung

9

Dies war die Handlung der Dokufiktion „2030 – Aufstand der Alten“,
deren drei Folgen im ZDF ausgestrahlt wurden. Starker Tobak, liebe
Leserin, lieber Leser, nicht wahr?
Und nun meine Frage an Sie: Halten Sie diese Fiktion lediglich für eine
solche, weil unrealistisch, vollkommen übertrieben, bewusst Angst machend? Oder denken Sie, dass unsere Zukunft einmal so oder so ähnlich
aussehen kann oder gar wird?
Die schlechte Nachricht lautet: In dem Ihnen vorliegenden Buch zeige
ich auf, dass ich den „M-Faktor“, um den es in dem beschriebenen Fernsehfilm ging, für künftige Realität halte. Dieser „M-Faktor“ bezeichnet
einen Minimal-Faktor hinsichtlich einer nicht inflationsbereinigten Altersrente in Höhe von 560 Euro in 23 Jahren.

Desaster „Gesetzliche Rentenversicherung“
Gestatten Sie mir, dass ich Sie provoziere? Lassen Sie uns mit einem

Klischee beginnen. Der Rentner heute spielt Golf, isst gern in guten Restaurants, legt Wert auf gehobene Kleidung und fährt mit der Mercedes E
Klasse zweimal im Jahr in den Urlaub. Einverstanden, lieber Leser, nicht
jedem Rentner geht es wirtschaftlich so gut, aber diesen Typus Rentner
gibt es in Deutschland doch. Gottseidank! Nehmen wir als Beispiel doch
einfach den Rentner Peter Hartz: Er bekommt von der Deutschen Rentenversicherung monatlich 1.862 Euro überwiesen, von seinem früheren
Arbeitgeber, der Dillinger Hütte, weitere 7.649 Euro, und VW bezahlt
ihm gar eine Betriebsrente von stattlichen 16.207 Euro. Macht zusammen
25.718 Euro. Monatlich.


10

Einleitung

Also, geht doch! 984 Jahre müsste ein Durchschnittsverdiener dafür
arbeiten. Nun gut, die Lebenserwartung ist ja deutlich gestiegen.
An das Märchen von der sicheren Rente glauben noch so manche Deutsche und dass es ihnen im Alter einmal nicht wirklich schlechter gehen
wird als heute. Ein fataler Gedanke.
„Uns selbst anzulügen ist tiefer in uns drin als andere anzulügen.“
Fjodor M. Dostojewski,
russischer Schriftsteller (1821-1881)


Einleitung

11

Warum eigentlich funktioniert unsere Gesetzliche Rentenversicherung
nicht mehr? Werfen wir einmal einen Blick auf die Funktionsweise unserer „sicheren Rente“ (Norbert Blüm):
Wenn von Ihrem Arbeitslohn von Ihnen und Ihrem Arbeitgeber heute

Beiträge an die Gesetzliche Rentenversicherung abgeführt werden,
überweist Ihr Chef den Gesamtbetrag an die Krankenkasse, welche diese
Gelder wiederum an die Rentenversicherung weiterleitet. Dieses Geld
wird – anders als beispielsweise in den USA – nicht verzinslich angespart, um aus diesem Topf später einmal Ihre Rente auszuzahlen, sondern
umgehend wieder an die heutigen Rentner ausgezahlt. In den USA werden
die Beiträge privatwirtschaftlich angelegt, und mittlerweile liegt die
unglaubliche Summe von 3,7 Billionen, also 3.700.000.000.000 US-Dollar
in Fonds, um spätere Ansprüche befriedigen zu können. Wir hingegen
leben von der Hand in den Mund. All unsere Forderungen an den Staat
existieren nicht in barer Münze, sondern sind ungedeckte Wechsel, die
nur durch die Arbeit der künftigen Generationen eingelöst werden
können. Statt ein sicheres, kapitalgedecktes System aufzubauen, bei dem
die Gelder in Versicherungen, Pensionskassen oder Fonds eingezahlt
werden, um später auch die Pensionsverpflichtungen des Staates realisieren
zu können, bürden wir der späteren Generation einen Vertrag auf, den
diese gar nicht schließen kann, weil sie noch nicht geboren wurde, den
„Generationenvertrag“. Allein für die Pensionsverpflichtungen gegenüber seinen Beamten hätte der Staat die unfassbare Summe von 700
Milliarden Euro ansparen müssen. Immerhin hat die Deutsche Post
anlässlich ihrer Privatisierung 730 Millionen Euro für Pensionsverpflichtungen gegenüber ihren Beamten zurückgelegt. Sehr löblich, jedoch
machte der Bundes-“Rechnungshof“ dieser verantwortungsvollen Vorsorge
einen Strich durch die wirtschaftlich korrekte Rechnung und die Transaktion
musste wieder rückgängig gemacht werden. Warum? Weil Politiker nur
in Wahlperioden denken.
„Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten
ist für manche Leute die krumme Tour.“
unbekannt


12


Einleitung

Dieses System der „umlagefinanzierten Rente“ kann nur unter drei Voraussetzungen funktionieren:
Die Geburtenrate bleibt dauerhaft stabil auf einem notwendigen Niveau,
damit die heute geborenen Kinder später unsere Rente bezahlen können.
Die Zahl der Arbeitslosen ist nicht übermäßig hoch, sodass genügend
Beitragszahler in die Rentenversicherung einzahlen.
Die Bezugsdauer der Rente ist überschaubar, verlängert sich also im
Laufe der Zeit nicht dramatisch.
Alle drei genannten Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Und deswegen
lief alles aus dem Ruder.
Im ersten Kapitel lesen Sie über Deutschlands Drama: Die Besten wandern aus und nur wenig Qualifizierte wandern ein. Außerdem erfahren
Sie, welches die gefragtesten Berufe von morgen sein werden.
Kapitel zwei beleuchtet die demografische Entwicklung Deutschlands
und geht auf die Suche nach den Gründen.
Im dritten Kapitel lesen Sie, wie es sich anfühlen wird im Greisenland zu
leben.
Kapitel vier analysiert die Misere „Gesetzliche Rentenversicherung“ und
geht den Ursachen dieser Katastrophe auf den Grund.
Im fünften Kapitel erfahren Sie, wie Sie die Versorgungslücke im Alter
schlien kưnnen.
Wie wir der demografischen Falle noch entkommen kưnnen, behandle
ich im sechsten Kapitel.
Wir alle sind in unserer Haut gefangen und schauen durch zwei kleine
Löcher in die Welt. Das engt die Sicht enorm ein. Wer will das noch
verstehen: Riester, Rürup, betriebliche Altersvorsorge über Entgeltumwandlung? Die gute Nachricht ist: In diesem Buch erfahren Sie verständlich, wie Sie heute mit staatlicher Förderung vorsorgen können, um nicht
im Alter täglich unter den beiden schlimmsten Problemen leiden zu müssen, die ein Mensch haben kann: Hunger und Durst. Aber es reicht nicht,
den Weg zu kennen, man muss ihn auch gehen, denn was man nicht



Einleitung

13

macht, passiert nicht. Mein Freund, der Finanzanalytiker Markus Rieksmeier, zeigt im Gastbeitrag im siebten Kapitel auf, welche Möglichkeiten
Sie haben, staatlich gefördert für das Alter vorzusorgen und macht
Schluss mit dem finanziellen Analphabetismus.
„Wie wir in unseren Studien festgestellt haben, ist das Thema Finanzen
in Deutschland weithin tabuisiert. Anders als zum Beispiel in Amerika
ist es hierzulande unüblich, in der Familie oder im Freundeskreis
über Geld zu sprechen.“
Martin Blessing,
Vorstandsmitglied der Commerzbank AG (*1963)
Ich wünsche Ihnen maximalen Erkenntnisgewinn bei der Lektüre dieses
Buches. Übrigens: wenn ich Sie künftig der Einfachheit halber mit „Lieber Leser“ anspreche, mögen sich bitte auch alle Angehörigen des weiblichen Geschlechts angesprochen fühlen.


Deutschland – der Status quo

15

1. Deutschland – der Status quo

„Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es ist.“
Karl Valentin,
Kabarettist und Autor (1882-1948)
Deutschland ist das erste Land der Welt, das ohne äeren Grund in
Friedenszeiten von jahrhundertelangem Bevưlkerungswachstum zur
Schrumpfung übergegangen ist. Seit etwa einem Jahrhundert folgt die
Geburtenrate in Deutschland einem stetigen, ziemlich glatten Abwärtstrend. Im Jahr 2050 werden wir die Bevölkerungszahl von vor dann einhundert Jahren – also dem Jahr 1950 – erreicht haben. Eigentlich noch

rechtzeitig, das heißt, in den Sechzigerjahren, haben Fachleute vor dieser
katastrophalen Entwicklung gewarnt: Denn demografische Entwicklung
ist und war berechenbar! Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden legt
regelmäßig Szenarioberechnungen vor, die dies belegen. Doch erst allmählich – aber zu spät – drängt sich nun der Fakt der demografischen
Alterung auch in das Bewusstsein der Allgemeinheit, und die Politik
reagiert – viel zu spät und viel zu langsam. In einem Fernsehinterview
wurde der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf zum
Thema „Demografische Katastrophe“ gefragt (Quelle: Video „Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft“):
„Was ist das für ein Mechanismus in Ihrer Partei, der jede sachliche
Auseinandersetzung verhinderte?“
Kurt Biedenkopf: „Es ist ein Mechanismus, der sich nicht auf meine
Partei beschränkt hat, sondern beide großen Volksparteien haben mit fast
gleichem Wortlaut jede grundsätzliche Diskussion über die gesetzliche
Alterssicherung von 1957 abgelehnt. Ich erinnere mich an einen Vorgang,
1993, da war ich hier schon Ministerpräsident und dann habe ich ´mal in
einem Interview gesagt, dass für die 40-Jährigen die Rente nicht mehr


16

Deutschland – der Status quo

sicher sei. Da wurde ich von Norbert Blüm, Heiner Geißler und Herrn
Dressler für die SPD fast wortgleich beschuldigt, ich würde den sozialen
Frieden und damit die innere Ordnung Deutschlands gefährden. Das
heißt, das war gar kein inhaltliches Argument, sondern es war ein Abwehrargument, und Abwehrargumente dieser Art sind ein typisches Zeichen dafür, dass es ein Kartell gibt. Eines, das sich nicht auf inhaltliche
Debatten einlassen kann, weil es weiß, dass sie die nicht besteht.“
„Die Welt muss begreifen, dass Staatsmoral ebenso lebenswichtig ist
wie Privatmoral.“

Franklin D. Roosevelt,
32. Präsident der USA (1882–1945)
Rein statistisch sind die Konsequenzen der demografischen Entwicklung
klar: Die Geburtenraten sinken. Gleichzeitig steigt die durchschnittliche
Lebenserwartung, die Zahl der über 60-Jährigen steigt gegenüber den 20bis 60-Jährigen. Im Jahr 2030 werden fast doppelt so viele ältere Menschen wie heute in Deutschland leben, dann kommt auf einen Rentner
knapp ein Erwerbsfähiger. Die Zahl der Erwerbstätigen geht zurück und
sie werden immer älter. Das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung, durch das die heute bezahlten Beiträge sofort wieder an die
Rentner ausgezahlt werden, funktioniert deswegen nicht mehr. Die Folgen: Jeder muss massiv für sich selbst vorsorgen und die Kranken- und
Pflegeversicherung muss dringend strukturell reformiert werden. Soweit
die Theorie.
Doch wie fühlt es sich an, in einer Gesellschaft zu leben, in der Kindergärten nicht mehr „bestückt“ werden können, in der ein 15-Jähriger
„Mangelware“ ist, Schulen schlien, Hưrsäle von Jahr zu Jahr leerer
werden, Unternehmen die gut ausgebildeten Fachkräfte fehlen und das
durchschnittliche Alter einer Belegschaft bereits bei knapp 40 Jahren
liegt – und weiter dramatisch steigen wird?
„Tiefes Wasser ist für die da, die schwimmen können.“
Christopher Fry,
britischer Schriftsteller und Dramatiker (1907-2005)


Deutschland – der Status quo

17

Machen wir diese Entwicklung ein wenig anschaulicher: Zwischen 2001
und 2003 nahm die Zahl der unter 15-Jährigen um 460.000 ab. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl Nürnbergs. Gleichzeitig nahm die
Zahl der über 65-Jährigen um 800.000 zu. So viele Menschen wohnen in
Frankfurt am Main und Potsdam. Gleichzeitig nahm die Zahl der Singles
– und die bekommen in der Regel nun einmal keine Kinder – um
700.000 zu, die der Verheirateten, also der potenziell Kinder zeugenden

Menschen, sank um 600.000. So verabschiedet sich Deutschland hochgerechnet in 65 Jahren vom letzten Ehepaar.

Wie können und müssen Unternehmen auf eine und mit einer zunehmend
älteren Belegschaft reagieren, um ihre Produktivität aufrechterhalten und
im Wettbewerb mithalten zu können? Wie können Unternehmen ihr Pro-


18

Deutschland – der Status quo

duktangebot an die Bedürfnisse älterer Menschen anpassen? Wie kann
die Politik reagieren, um ein staatliches Rentensystem am Laufen zu
halten und ein funktionierendes Gesundheitssystem zu installieren?
Und wie muss jeder Einzelne vorsorgen, um nicht im Alter vor dem
Nichts zu stehen? Dieses Buch gibt die Antworten auf diese überlebenswichtigen Fragen.

1.1 Deutschland? Und tschüss!
„Abschied: die Tür zur Zukunft.“
Manfred Hinrich (*1926)
Wenn Migration, genauer gesagt Auswanderung, ein Zeichen für die
wirtschaftlichen Aussichten eines Landes ist, sieht es schlecht für
Deutschland aus. Bekanntlich werden hierzulande viel zu wenige Kinder
geboren, deshalb sind wir darauf angewiesen, dass viele Einwanderer zu
uns kommen und gleichzeitig die Deutschen hier bleiben. Beides ist nicht
der Fall. Und in der Summe bedroht dieses „Ausbluten“ den Wohlstand
unserer Gesellschaft.
Eine gigantische Auswanderungswelle hat Deutschland erfasst. So viele
Deutsche wie seit Generationen nicht mehr wandern aus. Hunderttausende packen jedes Jahr ihre Koffer und lassen alles hinter sich: Haus und
Hof, Eltern, Tanten und Haustier, Freunde und Kollegen. Nach neuen

Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind im Jahr 2005 exakt 144.815
Deutsche ausgewandert, sei es, weil ihr Unternehmen sie für einige Jahre
ins Ausland geschickt hat oder weil sie für immer Deutschland den Rücken kehren wollen. Das sind etwa so viele, wie eine mittlere deutsche
Großstadt wie beispielsweise Heidelberg an Einwohnern zählt. Damit
sind 2005 rund acht Prozent mehr Deutsche ausgewandert als im Jahr
2004 und sogar 60 Prozent mehr (!) als in den frühen Neunzigerjahren. In
Wirklichkeit dürfte die Zahl aber noch weit höher liegen, weil sich nicht
alle Auswanderer abmelden, wenn sie Deutschland verlassen. Experten


Deutschland – der Status quo

19

vermuten, dass sich mittlerweile rund 250.000 Deutsche jährlich ins
Ausland verabschieden.1
Nach einer Forsa-Umfrage im Auftrag des TV-Senders Kabel 1 spielen
40 Prozent der 14- bis 49-jährigen Bevölkerung „hin und wieder“ mit
dem Gedanken an Auswanderung. Ernsthaft denken 8 Prozent darüber
nach, und 2 Prozent wollen tatsächlich auswandern.2 Das zeigt, dass das
Thema Auswanderung topaktuell ist. Zugleich sind 2005 aber auch weniger Deutsche als üblich – nur 128.000 Personen – aus dem Ausland
zurückgekehrt, was zu einem Effekt führte, der seit vierzig Jahren nicht
mehr da gewesen ist: Die Zahl der auswandernden war grưßer als die
Zahl der zugewanderten bzw. wieder zurückkehrenden Deutschen. Es
ergab sich ein Nettoverlust von knapp 22.815 Personen.3 Früher haben
Auslandsdeutsche und Spätaussiedler aus Mittel- und Osteuropa die Zahl
der deutschen Auswanderer ersetzt. Heutzutage reicht ihr Zustrom aber
nicht mehr aus, um den Verlust durch die Auswanderer zahlenmäßig
auszugleichen.4 Klaus Bade, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück, spricht deshalb berechtigterweise von einem „Wanderungsverlust“.
Problematisch sind aber nicht nur der Wegzug der Deutschen aus ihrer

Heimat und die abnehmende Zahl der Rückkehrer. Auch die Zahl der
ausländischen Zuwanderer sank seit den Neunzigerjahren dramatisch.
2005 lag die Nettozuwanderung – also die Summe der Auswanderer
verrechnet mit den Einwanderern – nur bei 100.000 Personen. Wenn es
dabei bleibt, wird das Potenzial an Erwerbspersonen nach Berechnungen
des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung viel stärker sinken
als bisher angenommen – und das ab sofort! Schätzungen für die Zukunft
gehen davon aus, dass jährlich rund 200.000 Menschen mehr ein- als
auswandern müssten, um die Wirtschaft weiterhin mit rund 1,5 Prozent
pro Jahr wachsen zu lassen. Nur dann werden wir genügend Fachkräfte
haben, nur dann kann unser Rentensystem der ganz großen Katastrophe
entgehen.
Es geht aber nicht nur um die reine Anzahl der Menschen, die kommen
und gehen, sondern besonders auch um die Ausbildung und Qualität der
Wanderer für den Arbeitsmarkt. Die Auswanderungswelle ist für


20

Deutschland – der Status quo

Deutschland deshalb so fatal, weil hauptsächlich junge, gebildete und
hoch motivierte Leute Deutschland verlassen. Es sind längst nicht mehr
nur Aussteiger, Steuerflüchtlinge oder Prominente, die sich auf und davon machen. Fast die Hälfte der Reisewilligen ist unter 30, und viele
werden die alte Heimat so schnell nicht wieder sehen. Aus allen Berufsgruppen und gesellschaftlichen Schichten kommen die Abwanderer.
Gerade Selbstständige, kleine Mittelständler und Handwerksmeister
gehen: Deutsche Tischler und Klempner, Metzger und Bäcker genießen
im Ausland einen hervorragenden Ruf. Sie sind gut ausgebildet und gelten als fleißig, pünktlich und erfahren. Kellner ziehen nach Österreich
und Bauhandwerker in die Schweiz, Ärzte nach England, Köche nach
Australien und Call Center-Agenten nach Irland. Lkw-Fahrer versuchen

ihr Glück in Neuseeland.
Gut ausgebildete Fachkräfte und vor allem Spitzenforschers nehmen gern
die grưßeren Freiheiten in Anspruch, die ihnen das Ausland vielfach
bietet. Rohrbauexperten gehen nach Kanada, Gentechnikforscher lassen
sich in die USA locken und Sozialarbeiter nach Großbritannien.3 Sie alle
haben dort die besten Chancen. Gleichzeitig sucht die deutsche Wirtschaft 18.000 Ingenieure, beispielsweise Airbus in Hamburg.5
„Das ganze Leben ist ein Experiment.“
Ralph Waldo Emerson,
US-amerikanischer Schriftsteller und Philosoph (1803-1882)
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Von der dritten Schulklasse bis zum
Abitur war ich mit Uwe Schlattner in einer Klasse. In allen Fächern –
abgesehen von den Fremdsprachen – war er stets Klassenbester. Schon
früh entdeckte mein hochbegabter Freund seine Liebe zu den Naturwissenschaften und studierte in Stuttgart Biologie. Nach dem Studium zog er
in die Schweiz und promovierte in Genf. An der dortigen Universität
lernte er seine heutige Frau kennen: Margoszata stammt aus Polen und
studierte Philosophie und Physik. Als ich Uwe Schlattner anlässlich seiner Hochzeit in Genf besuchte, konnte ich es nicht fassen: Mein Freund,
der sich mit Fremdsprachen stets schwer getan hatte, parlierte in fließendem Französisch mit seiner Braut. Nachdem beide ihre Promotion in der


Deutschland – der Status quo

21

Tasche hatten, zogen sie nach Zürich, und das Ehepaar Schlattner arbeitete an der renommierten Eidgenössisch Technischen Hochschule (ETH).
Hier habilitierte er sich und arbeitete zuletzt als Privatdozent für Biologie. Zwischenzeitlich haben Schlattners zwei Jungs, Philippe und Frederic. Die Mutter spricht mit beiden polnisch, kann inzwischen allerdings
auch fließend deutsch, Uwe Schlattner spricht mit seinen Kindern
deutsch und in der Schule sprechen die Jungs schwyzerdütsch. Die Eltern
kommunizieren auf französisch miteinander. Kürzlich kam für Dr.
Schlattner der Ruf als Professor an die Universität Grenoble in Frankreich. Vom ersten Tag an war der Schulunterricht für Philippe und Frederic in französischer Sprache: kein Problem, da sie die Sprache quasi
„nebenbei“ durch die Unterhaltungen ihrer Eltern lernten. Und heute, am

Silvesterabend 2006, sitze ich bei Familie Schlattner in Grenoble und
habe die Gelegenheit, meinem alten Schulfreund einige Fragen zu stellen:
„Uwe, warum hast Du Deutschland den Rücken gekehrt und bist in die
Schweiz gezogen?“
„Der Arbeitsmarkt für Forscher im akademischen Bereich ist bereits seit
langer Zeit nicht mehr auf einzelne Länder begrenzt. Einerseits stehen
Universitäten im weltweiten Wettbewerb um die besten Köpfe, andererseits sind mit fortschreitender Spezialisierung der Wissenschaftler immer
weniger Stellen attraktiv. In diesem Wettbewerb sind die meisten deutschen Universitäten schlecht positioniert. Oft sind weder die Rahmenbedingungen für effiziente Forschung, noch die Vergütung der Forscher im
öffentlichen Sektor international wettbewerbsfähig. Die Schweiz investiert bereits 3 Prozent ihres Bruttoinlandproduktes in die Forschung –
wobei die Privatindustrie allerdings den Hauptteil trägt –, während dieser Anteil in Deutschland seit Jahren bei crica 2,5 Prozent stagniert.
Außerdem bieten schweizer Universitäten, und vor allem die ETH in
Zürich, Rahmenbedingungen, die sich im internationalen Vergleich am
Top-Niveau orientieren, und die man in Deutschland höchstens an MaxPlanck-Instituten findet. Top-Niveau bedeutet eine optimale Infrastruktur,
also neue, modernste Geräte und technisches Personal, welches in
Deutschland gänzlich durch Doktoranden ersetzt ist, wenig Lehrbelas-


22

Deutschland – der Status quo

tung, eine effiziente Administration mit möglichst wenig Bürokratie und
schließlich auch eine international kompetitive Besoldung, die teilweise
auch leistungsbezogen und nicht nur – wie in Deutschland – nach
Dienstalter berechnet wird. Leistungsbezogen bedeutet hier, dass der
Vorgesetzte die Qualität der Arbeit, wie Forschungsergebnisse und Publikationen, beurteilt. Diese Faktoren machen die Schweiz zu einem der
attraktivsten Forschungsplätze in Europa. Ein hoher Anteil der schweizer
Professorenschaft kommt aus Deutschland. Ich habe sowohl meine Doktorandentätigkeit (Uni Genf) als auch meine Postdoc-Zeit (ETH Zürich)
in der Schweiz verbracht. In beiden Fällen habe ich sicher bessere Bedingungen angetroffen als an einer durchschnittlichen deutschen Universität.“
„Warum bist Du von der Schweiz nicht in die Heimat zurückgekehrt,

sondern hast eine Professur in Frankreich angenommen?“
„Wie erwähnt lässt sich der Arbeitsmarkt in hochspezialisierten Gebieten
inzwischen nicht mehr auf Länder begrenzen. Die Wahl der Universität
Grenoble für meine Professorenstelle war daher in erster Linie durch das
spezielle Angebot und die Ausrichtung des Instituts in Grenoble bestimmt. Weitere Alternativen gab es in Frankreich, nicht aber in Deutschland. Das Angebot einer „Juniorprofessur“ in Deutschland, ohne Festanstellung und entsprechende Ausstattung, war schlichtweg inakzeptabel.“
„Das klingt leider alles sehr plausibel. Welche Vorteile hat ein Leben in
der Schweiz bzw. Frankreich im Gegensatz zu Deutschland – außer der
leckeren Küche?“
„Natürlich ist ein Umzug ins Ausland zuerst mit Schwierigkeiten verbunden, zumal die Schweiz bekanntlich kein EU-Mitglied ist. Darüber hinaus
haben die beiden Länder durchaus Vorteile im Vergleich zu Deutschland.
Ein Beispiel: Die Steuerbelastung in der Schweiz ist deutlich geringer
und die Altersversorgung basiert auf mehreren Säulen, mit einem starken
individuellen Sparanteil, der kapitalgedeckt ist und nicht umlagefinanziert wie in der deutschen Heimat. Frankreich besitzt zwar ein Umlagesystem für die Rentenversicherung, hat aber eine positive demografische
Entwicklung.“


Deutschland – der Status quo

23

Lieber Leser, es ist schade, solch einen Spitzenforscher wie Professor Dr.
Schlattner an das Ausland zu verlieren. Und das ist nicht das einzig Bedauerliche: Denn jeder Deutsche, der hier 13 Jahre zur Schule ging und
ein Studium absolviert hat, verursachte dem deutschen Staat locker einen
sechsstelligen Betrag an Ausbildungskosten. Wir bezahlen die Ausbildung, das Ausland profitiert davon und es fließt kein Cent in unsere deutschen Sozialkassen zurück. Da kann ich der deutschen Politik unabhängig von jeder Couleur mit Friedrich Schiller nur zurufen:


24

Deutschland – der Status quo


„Verstand ist stets bei wenigen gewesen!“
Auch der Nachwuchs geht: Einer Umfrage des manager magazins aus
dem Jahr 2004 zufolge, rechnen Studenten nicht mehr mit einer guten
Zukunft in Deutschland.6 Allein die Zahl der deutschen Studenten, die im
Ausland studieren, hat sich seit 1990 auf mehr als 62.000 fast verdoppelt:
Erst planen sie, nur kurz ihre Heimat zu verlassen – dann finden sie Gefallen am Leben und Arbeiten in Boston oder Barcelona und bleiben dort.
Inzwischen ist es laut einer Umfrage schon für mehr als die Hälfte der
deutschen Studenten vorstellbar, sich im Ausland eine Existenz aufzubauen.7 Was soll diese jungen Leute also davon abhalten, frühzeitig zu
planen, irgendwohin zu gehen, wo sie bessere Chancen auf einen gut
bezahlten Job haben? So beispielsweise Pawel Kuschke, 20 Jahre alt und
im vierten Semester Student der Ostasienwissenschaft. Er beklagt „die
Macht der Alten, die geringen Chancen der Jungen“ und plant die Auswanderung nach Australien, Neuseeland, Singapur oder Taiwan und
sagt:8
„Ich kündige den Generationenvertrag!“
Unklar ist immer, ob die Auswanderer Deutschland für immer den Rücken kehren oder ob sie nur ein paar internationale Wanderjahre einlegen.
Die meisten legen sich zu Anfang gar nicht fest.3 Fest steht aber, weil es
statistisch erfasst wird, wohin es die „Republikflüchtlinge“ zieht, und
zwar zuletzt vor allem in die Schweiz und in die Vereinigten Staaten von
Amerika.9 Im Jahr 2005 wanderten 12.900 Menschen in die USA aus, das
ist der höchste Wert für ein Land außerhalb Europas. Hier sind zudem
Kanada, Australien und China sehr beliebt und bedeutsam.9 Innerhalb
Europas blieben im Jahr 2005 insgesamt 78.800 deutsche Auswanderer.
Für sie sind die Schweiz und Österreich mit Abstand die beliebtesten
Zielländer. In Österreich und der Schweiz sind die Deutschen mittlerweile
die am schnellsten wachsende Einwanderergruppe, aber auch Großbritannien und Australien vermelden immer mehr Deutsche.4


Deutschland – der Status quo

25


Der Forscher Rainer Münz vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut
(HWWI) spricht vom „Brain Drain“. So nennen es Wissenschaftler, wenn
die klügsten Köpfe aus einem Land ins andere abziehen. „Deutschland
hat seit einigen Jahren einen Auswanderungstrend, und es sind immer die
Ambitionierten, die Qualifizierten, also die Besten, die weggehen.“, sagt
Münz.4 Für die deutsche Volkswirtschaft bedeutet die Abwanderung der
Eliten einen gewaltigen Verlust: Der Staat steckt zigtausende Euro in die
Ausbildung eines jedes Biologen, Informatikers oder Ingenieurs. Und
dann verlassen diese Spezialisten frustriert unser Land.7
Deutschland – eines der reichsten Länder der Erde – ist ein Auswanderungsland!
Die Gründe, warum so viele Deutsche auswandern, sind vielfältig. Klar,
manche haben einfach Lust auf Abenteuer oder suchen ihren Platz an der
Sonne. Aber diese Personen machen nur den geringsten Tei der Auswanderer aus. Es sind weniger die vermeintlichen Vorteile im Ausland als die
miesen Verhältnisse in Deutschland, die die Leute dazu bringen, auszuwandern. Viele haben einfach die Nase voll von typisch deutschen Eigenheiten, wie dem Hang, immer neue Regeln zu erfinden, wo gar keine
nötig sind. Und sie sind den Reformstau leid: dieses ewige Gezänk um
Lohnnebenkosten, Sozialreformen, Subventionsabbau, Ladenschluss und
all die anderen Symbole einer blockierten Republik. Sie sind es leid, in
einem Land zu leben, in dem es nahezu einem Sechser im Lotto gleicht,
einen Platz in einer Kita zu ergattern – einem Land, in dem nicht einmal
die Hälfte der Menschen von Erwerbsarbeit lebt. Und in dem selbst Akademiker mit Mitte 40 bereits als schwer vermittelbar gelten.7
Es ist also die schlechte Stimmung, die für viele unerträglich geworden
ist und den Entschluss zu gehen, zumindest erleichtert. Ausschlaggebend
in der letzten Konsequenz sind und bleiben für die meisten aber ökonomische Gründe: Mehr als 37 Prozent der befragten Auswanderer geben
an, dass die derzeitige Wirtschaftslage ausschlaggebend sei für ihre Entscheidung2 – ganz nach dem Motto: „Schlechter kann es im Ausland
auch nicht sein.“ Junge, willige und fähige Leute sehen in Deutschland
keine berufliche Perspektive mehr und wollen sich dort eine neue Existenz aufbauen, wo ihre Arbeitskraft noch begehrt ist. Und das ist an erstaunlich vielen Orten der Welt der Fall.


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Deutschland – der Status quo

„Ein mutiges Herz ist der halbe Sieg.“
Jerome K. Jerome,
englischer Autor (1859-1927)
Auch meine Bekannte, Nicole Weigand, 28 Jahre alt, hat Deutschland
verlassen. In Deutschland „ist vieles so oberflächlich und unehrlich geworden“ schildert sie ihren Beweggrund, „ein „Wort“ zählt nicht mehr“
und „jeder ringt nur noch nach seinem eigenen Interesse“. „Erst einmal
weg“ aus dieser deprimierenden Stimmung, war ihr Hauptanliegen. Dass
sie überall, wohin sie auch gehen würde, einen Job finden würde, war ihr
klar. „Als Arzthelferin“, sagt sie „bin ich super ausgebildet und flexibel.“
Und wenn sie nicht als Arzthelferin einen Job findet, dann nimmt sie
eben einen anderen an. Zwölf Monate hat sie sich gesetzt, ihren Traum
von einem selbst bestimmten Leben zu verwirklichen. Dass es Neuseeland
geworden ist, verdankt sie ihrem Bauchgefühl. Was sie dort genau erwarten
würde, war aber anfangs alles andere als klar. Zur Vorbereitung lernte sie
Englisch via Internet, ein Englischlehrer organisierte ihr das Visum. Und
der Abschied fiel verdammt schwer: Es hieß also, nicht nur Auto verkaufen,
Möbel abgeben, Wohnung kündigen, sondern vor allem Abschied nehmen
von Freunden und Familie. „Aber“, so Nicole Weigand „es ist nun ´mal
ein immer währender Wechsel, Menschen kommen und gehen.“
Menschen mit dieser optimistischen Einstellung wie Nicole Weigand,
vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und dem Willen, sich die Arbeitsund Lebensbedingungen eben selbstständig zu erarbeiten und nicht weitgehend staatlich verordnen zu lassen, fühlen sich in Deutschland zunehmend eingeengt. Und Deutschland schafft es immer weniger, topmotivierten und qualifizierten jungen Leuten eine viel versprechende Perspektive zu bieten. Und wenn die jungen Leute es dann im Ausland gut
antreffen und sich wohl fühlen, erfahren das die daheim Gebliebenen
ziemlich schnell. Sobald der Freund aus der Fremde meldet, dass das
Geschäft gut läuft, ist dies Anreiz für andere, die sowieso mit dem Gedanken spielen, auszuwandern, ihre Idee auch tatsächlich umzusetzen
und die Koffer zu packen.



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